Donnerstag, 18. Mai 2023

Virtue Signaling

Bild: Pexels / Polina Tankilevitch - Lizenz

Eines der kurioseren soziologischen Phänomene der letzten Jahre ist das so genannte Virtue Signaling. Hinter diesem Begriff verbirgt sich das demonstrative öffentliche Kommunizieren von Standpunkten die als moralisch gut oder sogar überlegen wahrgenommen werden. Zweck dieser Handlung ist neben der Selbstvergewisserung die Symbolisierung einer Gruppenzugehörigkeit, die Abgrenzung zu anderen, als unmoralisch empfundenen Gruppen und die Beanspruchung einer Diskurs-Dominanz.


Virtue Signaling tritt vor allem im politischen Kontext auf, greift aber auch in der agilen Community um sich, etwa auf Meetups und Konferenzen, in Social Media oder Fachpublikationen. Verbunden ist es hier fast immer mit dem Kampf gegen eine (vermeintliche) Verfälschung und übermässige Kommerzialisierung der Idee der agilen Produktentwicklung, bzw. mit der Positionierung als Bewahrer der (idealisierten) ursprünglichen Absichten und Überzeugungen.


Mit der Zeit haben sich in diesem Zusammenhang einige populäre, stetig wiederholte Standard-Botschaften herausgebildet. Sie alle haben einen realen Kern, sprechen also tatsächliche Good Practices und Antipattern an, definieren sich aber sehr stark durch die Ablehnung bestimmter Missstände, wodurch sie oft von einem eher kritischen oder anprangernden Grundton durchzogen werden und in ihrem Dogmatismus mitunter über das Ziel hinausschiessen können.


Mit dieser Vorrede im Hintergrund - hier sind einige der am häufigsten vorgetragenen "agilen Virtue Signals", samt einer kleinen Einordnung:


Wir haben keinen Prozess, wir verhalten uns einfach vernünftig

Was steckt dahinter? Die Ablehnung der sehr stark ausufernden Prozessbeschreibungen, die SAFe, Disciplined Agile, Scrumstudy und weitere kommerzialisierte Anbieter verfasst haben. Diese werden als im Widerspruch stehend zu Selbstorganisation und Inspect & Adapt wahrgenommen.

Was ist davon zu halten? Die Grundidee mag vernünftig sein, in der Umsetzung stösst sie aber schnell an Grenzen. In jeder Situation neu zu erforschen und zu verhandeln was gerade die beste Lösung ist, selbst wenn es bereits passende Lösungen gibt, wäre verlangsamend und unwirtschaftlich.


Agile ist ein Mindset

Was steckt dahinter? Die Ablehnung der Reduktion von agilem Arbeiten auf spezifische Meetings, Rollen und Anforderungsformate, ohne das nötige Hinterfragen klassischer Welt- und Menschenbilder, die ohne Veränderung auch gutgemeinte Prozesse hierarchisch und kontrollierend umformen können.

Was ist davon zu halten? Ein kontroverses Thema. Für viele Agilisten ist dieser Spruch eine unverrückbare Wahrheit, die sie ständig rezitieren, für andere eine nicht zielführende Verlagerung systemischer Probleme auf die persönliche Ebene. Auf jeden Fall gut für lebhafte Diskussionen.


Kanban ist agiler als Scrum

Was steckt dahinter? Schlechte Erfahrungen mit rigide durchgesetztem und dogmatisch befolgtem Scrum, vor allem in Kontexten in denen Sprints und Sprintziele nur schlecht funktionieren können. Umgekehrt kommen gute Erfahrungen mit den schlanken und flexiblen Kanban-Prozessen dazu.

Was ist davon zu halten? In den meisten Fällen dürften derartige Äusserungen darauf beruhen, dass Scrum falsch (oder an einer nicht passenden Stelle) umgesetzt wurde. Grundsätzlich ist Kanban völlig in Ordnung, es ist aber nicht "Scrum ohne komische Vorschriften" (und beide sind ähnlich agil).


Extreme Programming ist das beste agile Framework

Was steckt dahinter? Zum einen Vergangenheitsverklärung - vor der Kommerzialisierungswelle der 2000er Jahre war XP das dominante Framework. Zum anderen der Ursprung vieler technischer agiler Praktiken in XP, ohne die Agilität (in der IT) nicht funktionieren kann.

Was ist davon zu halten? Wenn wirklich die technische Dimension im Vordergrund steht ist XP tatsächlich eines der besten agilen Frameworks (zumindest in der IT). Man muss sich nur bewusst machen, dass es seit ca. 20 Jahren nicht weiterentwickelt wurde und keinen Skalierungsansatz hat.


Story Points und Velocity gehören nicht zur Agilität

Was steckt dahinter? Die Ablehnung von Cargo Cult-Praktiken. Story Points und Velocity können bei falschem Verständnis die Illusion erzeugen, dass auch in volatilen und komplexen Umgebungen klassische Zeit- und Aufwandsplanung möglich ist. Dieses Missbrauchspotential führt zu einer Komplett-Ablehnung.

Was ist davon zu halten? Zum einen ist es richtig, dass Story Points und Velocity in keinem agilen Framework verpflichtend sind, man sollte aber zwischen Symptom und Root Cause differenzieren. Nicht diese Praktiken sind das Problem, sondern eher die Motive für ihren falschen Einsatz.


SAFe ist nicht agil

Was steckt dahinter? Die Ablehnung von zu umfangreichen oder falsch eingesetzten Regelwerken und Praktiken (siehe oben) und die Ablehnung zu starker Kommerzialisierung, für die SAFe mit seinen jährlich zu erneuernden, teuren Zertifizierungen das bekannteste Beispiel ist (siehe unten).

Was ist davon zu halten? Auch hier wieder: Ein kontroverses Thema. Für viele Agilisten ist die vehemente Ablehnung von SAFe Teil ihres Selbstverständnisses, andere bestehen darauf, auch mit SAFe agil arbeiten zu können (was z.T. sogar stimmen kann). Wie so oft - es kommt darauf an.


Wir machen Wir machen #NoBacklogs / #NoEstimates

Was steckt dahinter? Schlechte Erfahrungen mit zu detaillierten Planungen und dem Schätz-Zwang unschätzbarer Tasks. Aus Sorge, dass selbst gutgemeinte Ansätze zu diesem Zweck missbraucht werden können, kommt es auch hier zu kategorischen Ablehnungen von Planung und Aufwandsschätzung.

Was ist davon zu halten? Wenig, hier wird über das Ziel hinausgeschossen. Backlogs entstehen automatisch sobald unerledigte Arbeit da ist und Aufwandsschätzungen sind selbst dann gegeben wenn man sich fragt ob etwas im nächsten Monat machbar ist. Das zu vermeiden ist unmöglich.


Jira und andere Ticket-Tools sind nicht agil

Was steckt dahinter? Zum einen schlechte Benutzungserfahrungen, wie z.B. die, dass manche agilen Praktiken und Workflows in ihnen nicht abbildbar sind, zum Anderen schlechte Erfahrungen mit zu restiktiver Administration und Berechtigungsvergabe.

Was ist davon zu halten? Wie bei Story Points und Velocity sollte man auch hier zwischen Symptom und Root Cause differenzieren. Jira & Co haben ihre Schwächen (welches Tool hat die nicht?), meistens ist aber der nicht zielführende Einsatz das Problem, nicht das Tool selbst.


Selbst Spotify benutzt das Spotify Model nicht

Was steckt dahinter? Die Erzählung, dass das Spotify Model mit seinen Tribes, Squads, Gilden und Chaptern nur eine temporäre Momentaufnahme aus einer längeren Entwicklung war und nie als Blaupause für andere Organisationen gedacht gewesen ist (obwohl genau das passiert ist).

Was ist davon zu halten? Es kommt darauf an. Wenn man unter dem Spotify Model nur die Matrix-Organisation aus Tribes, Squads und Chaptern versteht, ist sie dort jahrelang im Einsatz gewesen (siehe hier ab Minute 28). Als Blaupause gedacht war sie nie, funktionieren kann sie trotzdem.


LeSS ist das beste agile Skalierungs-Framework

Was steckt dahinter? Erneut die Ablehnung übermässiger Prozesslastigkeit, die in den meisten Skalierungen anzutreffen ist. Das Versprechen von LeSS, Scrum ohne zusätzliche Meetings skalieren zu können, wirkt im Vergleich sehr verlockend.

Was ist davon zu halten? Erneut: es kommt darauf an. Wenn die beteiligten Teams mit einem gemeinsamen Ziel an einem gemeinsamen Produkt in einem gemeinsamen System arbeiten sind LeSS (oder Nexus) sehr zu empfehlen, bei anderen Konstellationen können andere Ansätze besser passen.


Es gibt einen agil-industriellen Komplex

Was steckt dahinter? Die Erkenntnis, dass es einem Grossteil der Schulungs- und Zertifizierungs-Anbieter vor allem um ein sicheres Business Model geht und weniger um bessere Produkte und flexiblere Prozesse, weshalb mitunter auch unnötige Kurse und Zertifikate verkauft werden.

Was ist davon zu halten? Über das Wording kann man streiten, aber das Phänomen ist real. Es gibt eine Schulungs- und Zertifizierungs-Industrie in der aufgrund systemischer Zusammenhänge teure Prüfungs- und Teilnahmebescheinigungen zum Selbstzweck geworden sind.


Die Liste liesse sich sicher noch erweitern, die grundlegende Stossrichtung dürfte aber klar sein, genau wie die sich daraus ergebende Problematik. (Agiles) Virtue Signaling wirkt bewusst polarisierend und z.T. ausgrenzend, zudem beansprucht es die Deutungshoheit über richtig und falsch. Das Führen differenzierter und konstruktiver Diskussionen ist auf dieser Basis sehr schwierig, mit grosser Wahrscheinlichkeit wird diese Art der Gesprächsführung in Konflikten enden (oder in Group Think).


Um die (ja grundlegend richten) Ausgangsüberlegungen besser zu vertreten bieten sich daher andere Vorgehensweisen eher an. Kritischer Rationalismus, Prime Directive und Datengetriebene Validierung lassen sich zwar nicht mit vergleichbarer Emotionalität vertreten, aber genau das ist am Ende auch der Punkt: wer in einer ungewissen und wechselhaften Umgebung versucht bestimmte Ideen als richtig und falsch zu kategorisieren, mag sich zwar moralisch überlegen fühlen, der Realität gerecht werden wird er aber eher nicht.

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