Immerschlimmeritis und Verbesserungsoptimismus
Es gibt Begriffe, die komplexe Sachverhalte prägnant auf den Punkt bringen, und einer davon ist gerade neu erfunden worden: die Immerschlimmeritis. Gemeint ist damit der Glaube, dass sich die Verhältnisse denen man ausgesetzt ist permanent verschlechtern - auch wenn in Wirklichkeit das Gegenteil der Fall ist. Geprägt hat ihn der Ökonom Georg Cremer, VWL-Professor an der Universität Freiburg, in einem Zeit-Artikel über Falschwahrnehmungen der Vermögensentwicklung in Deutschland.
Die spannende Frage ist jetzt, wie es zu einer derartigen, nicht der Realität entsprechenden Immerschlimmeritis kommen kann, und tatsächlich gibt es darauf sogar eine wissenschaftlich fundierte Antwort. Der berliner Soziologie-Professor Stefan Liebig (auf dessen Forschung Cremer seine Analyse aufbaut) hat das Phänomen untersucht und kommt zu der Erklärung, dass sich Einstellungen nur träge an veränderte Trends anpassen. Aber was heisst das?
Wenn sich Verhältnisse über eine längere Zeit in eine bestimmte Richtung entwickelt haben, gehen die betroffenen Menschen unbewusst davon aus, dass das mit einer gewissen Zwangsläufigkeit geschieht und aufgrunddessen auch so weitergehen muss. Wenn es also über längere Zeit zu Stagnationen oder Verschlechterungen gekommen ist, werden neu auftretende Verbesserungen nicht als solche erkannt oder lediglich für temporäre Abweichungen von einer dauerhaften Tendenz gehalten.
Wer schon einmal Veränderungsmanagement in grösseren Organisationen betrieben hat, wird jetzt vermutlich ein Deja-vu haben - selbst spürbare Verbesserungen werden in derartigen Kontexten oft nicht als solche anerkannt oder es wird ihnen eine dauerhafte Wirksamkeit abgesprochen. Diese Grundhaltung lässt sich in vielen Fällen anhand von Liebigs Modell mit der unbewussten Fortschreibung vorhergegangener langfristiger Stagnations- und Verschlechterungs-Erfahrungen erklären.
Diese Erklärung ist zunächst einmal frustrierend, bedeutet sie doch, dass Erfolge und Verbesserungen trotz spürbarer Effekte als vergebliche Mühen und sinnlose Aufwände betrachtet werden können, was im schlimmsten Fall zur Folge haben kann, dass sogar erfolgreiche Veränderungsvorhaben wegen einer irrtümlich wahrgenommenen Wirkungslosigkeit beendet oder sogar rückgängig gemacht werden können. Allerdings gibt es auch eine positive Deutung.
Wenn es gelingt, über einen längeren Zeitraum kontinuierliche Verbesserungen aufzuzeigen, dann kann die verzögerte Anpassung von Einstellungen an veränderte Trends zu einem verstärkenden Faktor von Verbesserungsvorhaben werden - die wiederholten derartigen Erfahrungen führen dann zu einem strukturellen Verbesserungsoptimismus, der spiegelbildlich zur Immerschlimmeritis dafür sorgt, dass die Beteiligten davon ausgehen, dass sich die Lage im Zweifel immer weiter verbessern wird.
Für das Veränderungsmanagement in grösseren Organisationen bedeutet das auf den Punkt gebracht, dass es sich lohnt, einen langen Atem zu haben und sich von anfänglicher fehlender Anerkennung nicht entmutigen zu lassen. Denn wenn kontinuierliche Verbesserungen gelingen, dann kann irgendwann die Zustimmung ähnlich stark werden wie zu Beginn die Ablehnung. Und das ist doch ein Ziel auf das es sich lohnt hinzuarbeiten.