Montag, 10. November 2025

Bullshit-Artefakte

Ich bitte um Entschuldigung, aber hier wird jetzt geflucht. Genauer gesagt wird es um Bullshit gehen, die englische (und wesentlich obszönere) Übersetzung des deutschen Wortes Bockmist, und dabei um ein Phänomen, das viel zu selten beachtet wird - das der Bullshit-Artefakte. Gemeint sind damit Hinterlassenschaften und Ergebnisse von Tätigkeiten, die keinen sinnvollen Zweck erfüllen, aber trotzdem aus irgendeinem Grund stattfinden.


Zuerst ein kurzer Blick zurück. Als Schimpfwort existiert Bullshit etwa seit dem ersten Weltkrieg und stammt angeblich ursprünglich aus Australien und Neuseeland. Zu Beginn ein blosser Ausruf der Frustration, wandelte er sich mit der Zeit zu einem Werturteil über eklatant unsinnige Zustände oder Sachverhalte. In dieser Bedeutung erstmalig  umfassend beschrieben wurde er 1986 vom amerikanischen Philosophen Harry G. Frankfurt in seinem legendären Aufsatz On Bullshit.


Aufbauend darauf definierte der amerikanische Anthropologe David Graeber 2018 die Kategorie der Bullshit Jobs, also von Berufen, die ihrem Wesen nach unsinnig oder überflüssig sind, die aber trotzdem in Organisationen vorgeschrieben oder von ihren Inhabern ausgeübt werden. Beispiele dafür sind der Manager, der aussagefreie Statistiken erhebt oder der Büroarbeiter, der nicht wertstiftende oder nicht nachhaltige Tätigkeiten durchführt.


Die Bullshit Jobs haben seitdem einen festen Platz in der Betrachtung grosser Organisationen gefunden, was aber eher wenig betrachtet wird sind ihre Arbeitsergebnisse. Auf den ersten Blick ist das auch unnötig, schliesslich werden sie ja gerade durch ihre Nicht-Wertschöpfung charakterisiert. Auf den zweiten Blick ist eine Beschäftigung damit aber um so dringlicher, schliesslich stellt sich die Frage, ob nicht doch Ergebnisse entstehen, die genauso unsinnig sind wie die Tätigkeiten.


Und tatsächlich ist genau das der Fall. Zwar entsteht kein nutzbarer Mehrwert, dafür aber Hinterlassenschaften (organisationssoziologisch: Artefakte), verschiedener Art. Diese sind sogar noch kritischer zu betrachten, als man denken könnte, denn nicht nur werden bei ihrer Erstellung Zeit und Ressourcen verbraucht, sie sind häufig auch Ausgangspunkt für weitere, ebenso wenig wertvolle Tätigkeiten, die wiederum weitere derartige Hinterlassenschaften erzeugen, etc.


Bei genauerer Betrachtung lassen sich zwei Typen derartiger Bullshit-Artefakte erkennen. Bei der ersten handelt es sich um die Ergebnisse von Sinnlos-Tätigkeiten. Beispiele dafür sind von niemandem angeforderte und von niemandem gelesene Berichte, die Einhaltung irrelevanter Formatierungen (z.B. der alphabetischen Anordnung von Email-Empfängern) oder das Ausdrucken, Stempeln und wieder Einscannen von Formularen. Schwierig wird das, wenn es zur Vorschrift wird, die alle erfüllen müssen.


Der zweite Typ liegt vor, wenn eigentlich sinnvolle Tätigkeiten mit Sinnlos-Prozessen überzogen werden. Beispiele dafür sind (schein-)genaue Aufwandsschätzungen in volatilen Markt- oder Technik-Umfeldern, die übergreifende Priorisierung aller Aufgaben in Unternehmen, in denen die Teams so spezialisiert sind, dass sie die höher priorisierten Aufgaben im Zweifel gar nicht übernehmen können, oder die Erstellung von Fortschrittsberichten auf Basis unfertiger Arbeitspakete.


Besonders der zweite Typ kann in immensem Ausmass Bullshit-Folgetätigkeiten nach sich ziehen, nämlich dann, wenn versucht wird, die Realität an die Inhalte des jeweiligen Bullshit-Artefakts anzupassen. Das geschieht in derartigen Kontexten nämlich meistens durch noch mehr Bullshit Jobs, also durch weitere unrealistische Aufwandsschätzungen, weitere nicht umsetzbare Priorisierungen, weitere aussagefreie Fortschrittsberichte, etc.


Wichtig beim Gegensteuern gegen derartige Verhältnisse ist übrigens, bei der Wurzel anzufangen. Dort wo sich Bullshit-Artefakte häufen, wird es nur wenig helfen, auf eine bessere Qualität der offensichtlich unsinnigen Berichte, Priorisierungen, Schätzungen, etc. zu dringen. Die erfolgversprechendste Methode ist die ersatzlose Abschaffung der dahinterliegenden Bullshit Jobs. Mit ihnen verschwinden dann auch die von ihnen produzierten unsinnigen Ergebnisse.

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