Mittwoch, 30. April 2025

Kommentierte Links (CXXVI)

Grafik: Pixabay / Brian Penny - Lizenz
Das Internet ist voll von Menschen, die interessante, tiefgründige oder aus anderen Gründen lesenswerte Artikel schreiben. Viele dieser Texte landen bei mir, wo sie als „Food for Thought“ dazu beitragen, dass auch mir die Themen nicht ausgehen. Wie am Ende jedes Monats gibt es auch diesesmal wieder eine kommentierte Übersicht über die erwähnenswertesten.

John Cutler: The 4 Framework Jobs (And Why It Matters)

Vorgehensmodelle jeglicher Art sind in praktisch allen grösseren und mittleren Organisationen weit verbreitet, von klassischem Projekt und Prozessmanagement über Lean Six Sigma und Total Quality Management bis hin zu Kanban, Scrum und SAFe. Was John Cutler zurecht anmerkt ist aber, dass zu selten darüber nachgedacht wird, warum diese Modelle ursprünglich ausgewählt wurden, was mit ihnen erreicht werden sollte und ob sie noch immer der beste Weg zu diesen Zielen sind.

Sjoerd Nijland: How to Say “It Depends” with Data

"Es kommt darauf an" ist die klassische Antwort aller Produkt- und Projektmanager, wenn sie nach Fortschritten und Fertigstellungsdaten gefragt werden. Dass diese Antwort ohne Kontext und Begründung nicht zufriedenstellend ist, ist offensichtlich, weshalb Sjoerd Nijland eine entscheidende Erweiterung vornimmt: er nennt eine entscheidende Variable auf die es ankommt, nämlich das Ausmass der messbaren Volatilität des Backlogs. Je höher diese ist, desto unklarer die Fortschritts-Prognosen.

Hunter Schwarz: This 3D-printed train station in Japan took less than 6 hours to build

Dass CAD und 3D-Druck agiles Arbeiten auch in Bauprojekten möglich macht, ist eine der spannenden Entwicklungen der letzten Jahre. Welche Umsetzungs-Geschwindigkeiten damit erreicht werden können beschreibt Hunter Schwarz anhand des Neubaus des japanischen Bahnhofs in Arida, der in unglaublichen sechs Stunden abgeschlossen werden konnte, also in nur einer einzigen Nacht. Zum vergleich: vergleichbare Arbeiten in Deutschland dauern Monate.

Maarten Dalmijn: The Explosive Nature of 'Big Bang' Rewrites

Dass Big Bang-Releases neu entwickelten problematisch sind, sollte mittlerweile allgemeines Verständnis sein. Maarten Dalmijn fügt dieser Erkenntnis noch eine weitere Dimension hinzu: auch das komplette Umschreiben einer bestehenden Anwendung mit anschliessender Big Bang-Ablösung des Bestandssystems ist riskant. Zwar sind die Nutzerbedürfnisse (hoffentlich) bekannt, das Wissen um die inneren Zusammenhänge ist aber schon schnell zu gross um sich noch verlässlich planen zu lassen.

Luís Gonçalves: Scaling Startups - The Ultimate Guide For Founders

Wo würden agile Vorgehensweisen Sinn machen, wenn nicht in einem Startup? Und wodurch zeichnet sich ein Startup aus, wenn nicht durch starkes Wachstum? Dass es aber auch hier Differenzierungen gibt kann man bei Luís Gonçalves nachlesen, der vor allem den Unterschied zwischen Start Up und Scale Up hervorhebt. Der ist gravierender als man denken könnte (selbst wenn es eine Übergangsphase dazwischen gibt), so dass es sich lohnt, die beiden Typen zu kennen.

Montag, 28. April 2025

Der Unterbau von OKRs

Für sich genommen klingt die Idee der Objectives and Key Results (OKRs) erstmal einfach. Man setzt ein abstraktes, mittelfristiges Ziel (z.B. Erschliessung eines neuen Kundensegments im nächsten Quartal) und verbindet es mit wenigen konkreten, messbaren Ergebnissen (z.B. X Nutzer nach dem ersten Monat, Y Wachstumsrate im 2. Monat, Z Prozent Verlängerungen nach der Probezeit). Die Herausforderung, die dadurch entsteht ist aber: wie lässt sich das mit dem Alltagsgeschäft verbinden?


Die erste und naheliegende Antwort ist es, in kurzen Abständen (z.B. wöchentlich) zu überprüfen, ob Forschritt in der gewünschten Richtung stattfindet und ggf. Anpassungsmassnahmen zu beschiessen, falls die bisherigen Ergebnisse zu wünschen übriglassen. Auch hier bleibt aber offen, was genau es ist, das da begutachtet wird. Natürlich kann man sich immer wieder die OKRs selbst vorlegen, die Verbindung zum Alltagsgeschäft wäre damit aber noch immer nicht gegeben.


Ein häufig anzutreffender Ansatz zum Schliessen dieser Lücke ist, für die jeweiligen Key Results einen weiteren Work Breakdown durchzuführen und die Umsetzung der sich so ergebenden Arbeitspakete mit Hilfe eines Backlogs oder einer Roadmap zu planen.1 Damit wird nicht nur die Umsetzungslücke geschlossen, es ist darüber hinaus möglich, die OKR-Aufwände und die sonstigen Tätigkeiten in einer gemeinsamen Planungssicht zusammenzufassen und so Redundanzen und Überplanung zu vermeiden.


Die Art der jeweiligen Arbeitspakete kann schliesslich variieren. Sie können die Bereitstellung der (Infra-)Strukturen zum Gegenstand haben, die für die Erbringung von Leistungen Voraussetzung sind, sie können aus der Fertig- und Bereitstellung von neuen Produkten, Features oder Services bestehen, sie können aber auch die Form von Business-Experimenten haben, durch die erforscht wird, auf welche Art und Weise sich Nutzergewohnheiten ändern oder Kaufanreize setzen lassen.


Wichtig bei der Definition dieses Unterbaus unterhalb der OKRs ist dabei weniger, um was für Arbeitspakete es sich genau handelt, sondern eher ob sie zur Erreichung der übergeordneten messbaren Ergebnisse, der Key Results, beitragen. Stellt sich heraus, dass sie einen Beitrag leisten, sollten sie ggf. wiederholt und intensiviert werden können, leisten sie keinen erkennbaren Beitrag muss es möglich sein, sie unbürokratisch zu variieren oder zu verwerfen. Auf keinen Fall dürfen sie zum Selbstzweck werden.


Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass diese Art mit Objectives and Key Results zu arbeiten weder die einzige ist, noch eine die per Definition besser als andere Vorgehensweisen wäre. Es ist aber eine, mit der sich die Verbindung zwischen OKRs und Alltagsgeschäft gut herstellen lässt. Wer in diesem Bereich Verbesserungspotential sieht, kann daher einen Versuch wagen und überprüfen, wie gut dieser Ansatz für ihn funktioniert - idealerweise anhand von im voraus definierten Erfolgskriterien.



1Ein naheliegender Ansatz ist die Nutzung der Key Results als Sprintziele in Scrum

Donnerstag, 24. April 2025

Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte (XLVII)

Grafik: Manu Cornet / Bonkersworld.net - CC BY-NC-ND 3.0
Das wirklich Bemerkenswerte an dieser Darstellung ist ihr Alter - sie ist aus dem Jahr 2011, hat aber bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüsst. Ein zeitloser Klassiker.

Montag, 21. April 2025

Change Management (II)

Grafik: Pixabay / Mohammed Hassan - Lizenz

Change Management ist einer dieser Begriffe, die je nach Betrachtungsweise unterschiedliche Bedeutungen haben können - von denen aber keine einzige die "offiziell richtige" ist. Das kann Gespräche und Vorhaben zu diesem Thema leicht in Missverständnisse führen. Um das zu vermeiden hilft es, sich die verschiedenen möglichen Bedeutungen bewusst zu machen, um auf dieser Basis gemeinsam explizit zu machen, welche man gerade meint.


Eine Möglichkeit sich dem zu nähern ist die Frage, was genau im Change Management eigentlich "gemanaged" wird, denn das ist tatsächlich keineswegs so eindeutig wie es auf den ersten Blick scheinen mag (der Grund dafür ist die Vieldeutigkeit des englischen Wortes "Management", der nicht-Muttersprachlern zum Teil nicht bewusst ist). Gegenstand des Change Managements können nämlich sowohl die Veränderungen selbst sein, als auch der Umgang mit ihnen.


Die erste Variante dürfte auch die eingängigere sein. In ihr ist Change Management die Summe aller Tätigkeiten, durch die Veränderungen auf Organisationsebene (Team, Abteilung, Firma, etc.) ausgelöst, verhindert, begleitet, durchgeführt, verstärkt, abgeschwächt, beendet oder verstetigt werden sollen. Diese Art von Tätigkeiten ist im klassischen Projektmanagement häufig Teil eines Change Management Plans, dessen Einhaltung Gegenstand von Controlling und Reporting ist.


Die zweite Variante ist in gewisser Weise eine Äquivalenzklasse zu Konzepten wie Stress Management und Anger Management und kann sich ggf. mit diesen überschneiden. In ihr ist Change Management ein auf individueller Ebene stattfindender (und ggf. professionell begleiteter) Prozess, in dem es darum geht, zu erkennen, ob und wie man von Veränderungen betroffen ist, welche persönlichen Konsequenzen sich daraus ergeben und wie man mit ihnen stress- und frustrationsvermeidend umgehen kann.


Je nach Art der Veränderung kann die zweite Variante auch eine soziale Dimension haben, also ganze Gruppen betreffen, die dann gemeinsam einen Weg finden müssen, damit umzugehen. Das ist vor allem dann der Fall, wenn gemeinsame identitätsstiftende Elemente sich ändern oder ändern sollen, zum Beispiel (organisatorische) Zugehörigkeiten, Ziele und Aufgaben, aber auch Überzeugungen, Identitäten, Gewohnheiten oder Erwartungen.


Man kann schnell erkennen, dass diese beiden Varianten des Change Managements vollkommen unterschiedliche Notwendigkeiten, Herausforderungen und Rahmenbedingungen mit sich bringen, und ggf. sogar gegenläufig zueinander sein können, etwa dann, wenn auf organisations-Ebene Veränderungen schnell vorangetrieben werden sollen, während auf Personen- oder Gruppenebene der Wunsch vorherrscht, diese zu verlangsamen, um sich besser auf sie einstellen zu können.


Wenn Veränderungsvorhaben auf den Weg gebracht werden, kann es daher eine gute Idee sein, zu Beginn ein gemeinsames Verständnis darüber herzustellen, was in diesem Fall unter dem Begriff Change Management verstanden wird. Das mag zwar etwas abstrakt und theoretisch wirken, auf lange Sicht kann man sich dadurch aber einiges an Missverständnissen und Konflikten ersparen, wodurch die Veränderungsarbeit dann einfacher und tendenziell auch erfolgreicher wird.

Donnerstag, 17. April 2025

Agile ≠ Improvement

Bild: Unsplash / Jessica Gale - Lizenz

Ich kann es nicht mehr genau nachvollziehen, aber mittlerweile dürfte ich über hundert Job-Interviews mit Scrum Mastern, Agile Coaches und Inhabern ähnlicher Rollen geführt haben, sowohl für meine eigene Firma als auch für verschiedene Kunden. Und selbst wenn es die eine entscheidende Antwort auf sie nicht gibt, mit der Zeit habe ich eine Frage gefunden, mit der sich gut feststellen lässt, ob mein aktueller Gegenüber wirklich verstanden hat, was es mit dem Konzept der Agilität auf sich hat.


Sie ist relativ einfach: "Gibt es irgendeinen Kontext, in dem es nicht sinnvoll ist, agil zu arbeiten?" Erstaunlich viele Bewerber verneinen das und versteifen sich darauf, dass es immer sinnvoll wäre, agil vorzugehen. Und wenn man darum bittet, das zu erklären, erfolgt fast immer die selbe Erläuterung: "Es gibt immer irgendetwas, was man besser machen kann. Deshalb ist es grundsätzlich in jeder Situation eine gute Idee, agil vorzugehen".


Der grundsätzliche Denkfehler, der dieser Argumentation zu Grunde liegt (und durch den man zeigt, die Idee der Agilität noch nicht zur Gänze verstanden zu haben) ist die Gleichsetzung von agilem Arbeiten mit der Suche nach Verbesserungspotential. Dabei handelt es sich allerdings um eine Verwechselung der notwendigen und der hinreichenden Bedingung. Wer agil arbeiten will, muss zwar nach Verbesserungen suchen, aber nicht jeder der nach Verbesserungen sucht, arbeitet agil.


Um das zu erläutern: eine agile Vorgehensweise unterscheidet sich von der blossen Suche nach Verbesserungspotential durch zwei Eigenschaften: sie findet kontinuierlich statt und sie ist potentiell disruptiv. Und auch die lassen sich nochmal besser erläutern, angefangen mit der ersten. Eine Suche nach Verbesserungen könnte auch jährlich oder quartalsweise stattfinden. Um das agil-typische ständige Inspect & Adapt zu erfüllen reicht das aber nicht - kontinuierlich bedeutet hier eher monatlich.1


Jetzt zur zweiten, etwas schwerer zu erklärenden Eigenschaft: die blosse Suche nach Verbesserungen kann auch lediglich auf Effizienzsteigerungen ausgerichtet sein, also darauf, einfach schneller und reibungsloser zu arbeiten. Agiles Arbeiten ist dagegen auf Effektivitätssteigerung ausgerichtet, also auf die Frage, ob überhaupt noch am richtigen Thema gearbeitet wird, oder ob sich Rahmenbedingungen oder Ziele inzwischen so geändert haben, dass man eine grundsätzlich andere Richtung einschlagen solllte.


Diese Möglichkeit, die bisher verfolgten Zielsetzungen anzupassen, ist das, was agiles Arbeiten disruptiv macht. Und da diese Richtungsanpassung nichts ist, was man bei jeder Verbesserungsbemühung zwangsläufig machen sollte, sondern nur dann, wenn man darin einen Sinn erkennt, ist Agilität nicht zwangsläufig disruptiv sondern lediglich potentiell disruptiv. Es kann zu einer grundsätzlichen Anpassung kommen, es muss aber nicht. Notwendige und der hinreichende Bedingung.


Um auch die anderen Vorgehensmodelle beim Namen zu nennen - seltene (bzw. nicht-kontinuierliche) Veränderungen entsprechen dem klassischen Verbesserungsmanagement, dessen explizites oder implizites Ziel die (Wieder-)Herbeiführung eines stabilen Zustandes ist. Und kontinuierliche, aber nicht disruptive Optimierungen finden sich im Lean Management, das einen gleich bleibenden Ablauf nach und nach immer effizienter machen will.


Diese drei Typen (agiles Arbeiten, klassisches Verbesserungsmanagement und Lean Management) unterscheiden zu können ist etwas, das jeder Scrum Master oder Agile Coach eigentlich beherrschen sollte - zumindest dann, wenn er in einer beratenden Funktion arbeitet, sei es extern (wie in meiner Firma) oder intern (als Change Agent innerhalb einer Organisation). Kann man das noch nicht ist das zwar kein Drama, aber ein deutlicher Hinweis darauf, wo noch dazugelernt werden muss.



1Wenn sich gerade jemand fragt, woher diese Festlegung kommt - aus dem Manifest für agile Softwareentwicklung, dem Gründungsdokument der agilen Bewegung.

Montag, 14. April 2025

Working on Software in the Desert and the Forest

Zu den wichtigsten Praktiken des Extreme Programming gehört der Einsatz von Metaphern, mit deren Hilfe man komplexe Sachverhalte einfach erklären kann. Zu den prominenteren Beispielen der letzten Zeit gehören dabei the Desert and the Forest von Kent Beck und Beth Andres-Beck. Der Wald (Forest) steht dabei für eine Umgebung, in der moderne Software-Entwicklungspraktiken möglich sind, während sie in der Wüste (Desert) nicht angewandt werden können. In diesem Konferenz-Vortrag erklären sie, was sich hinter diesen Metaphern verbirgt.



Erwähnenswert ist dabei ihre Einordnung ihres Konzepts in die Realitäten der Softwareentwicklung in vielen Firmen. Die Wüste gilt bei ihnen nicht als etwas per se Schlechtes, sondern als etwas was historisch gewachsen ist, durchaus Ergebnisse bringen kann (wenn auch relativ langsam) und durch die richtigen Entscheidungen nach und nach zu einem Wald werden kann.

Freitag, 11. April 2025

Bürokratisierung der Entbürokratisierung

Vor einiger Zeit reifte in einer Behörde, deren IT-Projekte ich begleiten durfte, die Einsicht, dass die eigenen Prozesse zu starr und zu langwierig waren. Um dem zu begegnen wurde ein neues "Referat für den Abbau von Bürokratie" geschaffen, das dem entgegenwirken sollte. Seine erste Amtshandlung bestand darin, alle anderen Referate anzuweisen, alle ihre Arbeitsabläufe detailliert zu dokumentieren. Auf Basis dieser Dokumente sollte dann entschieden werden, wo Bürokratie abgebaut werden könnte.


Dieses widersinnige Vorhaben (das nicht zu weniger sondern zu mehr Verwaltungsaufwand führte) gehört zu einem Trend, den der Soziologie-Professor Stefan Kühl treffend als "Bürokratisierung der Entbürokratisierung" beschrieben hat. Hinter ihm verbergen sich die zunehmend verbreiteten Massnahmen, Bürokratieabbau, Digitalisierung, Effizienzzsteigerung und ähnliche Dinge dezidierten Organisationseinheiten zuzuordnen - und damit versehentlich alles nur noch schlimmer zu machen.


Diese Verschlimmerung ergibt sich aus verschiedenen, mit grosser Wahrscheinlichkeit eintretenden Dynamiken. Zunächst gibt es für die neue Zentraleinheit starke Anreize, Informierungs-, Beteiligungs- und sonstige Pflichten anzuordnen, wodurch es wie im Fall des oben genannten Bürokratieabbau-Referats dazu kommen kann, dass alleine der dadurch notwendige Kommunikationsaufwand zu der perversen Konsequenz führt, dass alles ineffizienter wird statt effizienter.


Wenn es darüber hinaus dazu kommt, dass nicht nur über die eigenen Prozesse berichtet werden muss, sondern Änderungen an ihnen zentral begutachtet und ggf sogar genehmigt werden müssen, wird die dafür zuständige Einheit zu einem verlangsamenden Flaschenhals für alle anderen. Schlimmstenfalls kann es dazu kommen, dass selbst dringende und von allen gewollte Änderungen lange verzögert werden, weil die für die Freigabe zuständigen Personen überlastet sind.


Als Folge dessen kann es sogar zu nochmals weiteren Verschlechterungen kommen: um eine eigene Überlastung zu verhindern oder abzubauen neigen viele Zentraleinheiten dazu, der restlichen Organisation einheitliche Vorgehensmodelle oder Berichtsformate vorgeben zu wollen, um deren Lage einfacher verstehen und vergleichen zu können. Diese Vereinheitlichung kann oft nur auf Kosten der optimalen Bedienung der lokalen Bedürfnisse erreicht werden.


Gleichzeitig entstehen demotivierende Auswirkungen für die dezentralen Einheiten. Wenn plötzlich alle eigenen Verbesserungsbemühungen zu Dokumentations- und Kommunikationsmehraufwand führen und darüber hinaus befürchtet werden muss, dass von aussen gut gemeinte Verschmlimmbesserungen stattfinden, dann ist das ein Anreiz, solche Bemühungen gar nicht mehr (oder nur lokal, unangekündigt, unabgestimmt und intransparent) durchzuführen.


Zuletzt stehen Bürokratieabbau-Einheiten aufgrund der mit ihnen verbundenen Erwartungen und Aufwände unter hohem Erfolgsdruck, der (vor allem dann wenn die Erfolge Voraussetzung für Gehalts-, Karriere- und Statusverbesserungen sind) dazu führen kann, dass Fortschritte aufgebauscht und voreilig oder wahrheitswidrig verkündet werden, mit der Folge, dass vordergründig Verbesserungen stattzufinden scheinen, während in Wahrheit Verspätung, Stillstand und Verschlechterungen vorherrschen.


Die Zuordnung von Bürokratieabbau, Digitalisierung, Effizienzzsteigerung, etc. zu dezidierten Organisationseinheiten ist aus all diesen Gründen mit dem hohen Risiko verbunden, das Gegenteil des Angestrebten zu erreichen. Ein wesentlich besserer Weg kann es sein, dezentrale Freiräume für Verbesserungsbemühungen (incl. Zeit und Budget) zu schaffen, alleine verbunden mit der Bedingung einer transparenten Durchführung, um auf versehentliche Fehlentwicklungen hinweisen zu können.


Und um Missverständnissen vorzubeugen - Referate die den Abbau von Bürokratie bürokratisieren gibt es nicht nur in der staatlichen Verwaltung, sondern auch in der freien Wirtschaft. Sie tragen dort nur andere Namen, z.B. Prozessmanagement, Inhouse Consulting, Betriebsorganisation oder Agiles Transitionsteam.


Nachtrag 24.04.2025:

Stefan Kühl hat seine Gedanken zur Bürokratisierung der Entbürokratisierung im Sozialtheoristen-Blog präzisiert.

Dienstag, 8. April 2025

Business Owner (BO)

Bild: Wikimedia Commons / JCS - CC BY 3.0

Sobald agiles Arbeiten über die Teamebene hinaus in einem Unternehmen etabliert werden soll, stossen praktisch alle agilen Frameworks auf das immer gleiche Problem: oberhalb der Teams und um die Teams herum gibt es vor allem in grösseren Firmen eine unberschaubare Zahl von Management-Rollen. Teilprojekt-, Projekt- und Programmleiter, Test-, Release- und Security Manager, Heads of Legal, Product und Sales, Team- Abteilungs- und Bereichsleiter und viele, viele mehr. Was macht man jetzt mit denen?


In den meisten Fällen gibt es darauf keine klaren Antworten; Scrum, Kanban, DevOps und fast alle weiteren agilen Vorgehensmodelle befassen sich einfach nicht mit diesem Thema, was Unklarheit und Unsicherheit zur Folge hat. Schlimmstenfalls erwächst aus dieser Unklarheit sogar ein Konflikt - wenn den verschiedenen Managern gesagt wird, dass sie im Umfeld selbstorganisierter Teams bald nicht mehr benötigt werden, werden die meisten von ihnen natürlich um ihren Status und ihre Karriere kämpfen.


Und auch das gehört dazu: viele der bisherigen Management-Aufgaben können nicht so einfach dezentral in alle Teams delegiert werden. Irgendjemand muss die grossen strategischen Entscheidungen treffen, irgendjemand muss Ansprechpartner für Gehaltsverhandlungen, Beförderungen, Versetzungen und Eskalationen sein, und irgendjemand muss letzten Endes die Verantwortung tragen, wenn es um zivilrechtliche Haftungsfragen geht, etwa wegen Verstössen gegen Arbeitsschutz oder Compliance.


Das meines Wissens nach einzige agile Framework, dass diese Umstände in seinem Regelwerk berücksichtigt (wenn man von einigen offensichtlich nur halb-ernst gemeinten Management-Rollen in Extreme Programming absieht) ist das Scaled Agile Framework/SAFe, in dem eine Rolle enthalten ist, die einen Grossteil der oben genannten Verantwortungen enthalten kann - wenn auch nicht in jedem Fall enthalten muss. Die Rede ist von dem Business Owner (BO).


Auf der entsprechenden Website beschreibt SAFe fünf Aufgabenbereiche, die ein BO haben kann: Leading by Example, Engaging in Lean Portfolio Management, Aligning Priorities & PI Planning, Realizing Business Outcomes und Sponsoring Relentless Improvement. Wie vieles andere in diesem Framework ist das im Folgenden gleichzeitig hinreichend unkonkret um individuell ausgestaltet zu werden und spezifisch genug um "agile Puristen" zu provozieren.


Zu den hinreichend unkonkreten Formulierungen, mit denen die fünf Aufgabenbereiche beschrieben werden, gehören beispielsweise mehrere, in denen davon die Rede ist, durch eigenes Verhalten ein Vorbild zu sein, Visionen zu kommunizieren, anderen Führungsrollen zu helfen, den Geschäftskontext zu vermitteln, den Teams Feedback zu geben und andere zu motivieren. Dahinter kann sich alles Mögliche verbergen, von der Sonntagsrede bis zur Hands On-Unterstützung.


Provozierend für agile Puristen sind weitere Formulierungen, die implizieren, dass die Business Owner Aufgaben übernehmen können, die auch von selbstorganisierten Teams direkt übernommen werden könnten. Das Vermitteln bei internen Konflikten und Widerständen gehört dazu, das Organisieren teamübergreifender Communities of Practice, Stakeholdermanagement, Abhängigkeitsmanagement, die Beseitigung von Impediments, die Definition von KPIs und die Optimierung von Arbeitsflüssen.


Während diese beiden Aufgabenbereiche diskutierbar und ggf. verzichtbar sind, gibt es aber einen dritten, der unverzichtbar und entscheidend ist - das Schaffen optimaler Rahmenbedingungen: Business Owner sind zuständig für die Bereitstellung von ausreichend Budget, Personal und Ressourcen, für das Setzen und Anpassen strategischer Ziele sowie für das Beseitigen demotivierender Vorschriften und Prozesse. Das sind Schlüsseltätigkeiten, auf deren Basis Selbstorganisation überhaupt erst möglich ist.


Insgesamt ergibt sich so ein für SAFe typisches Bild: mit der BO-Rolle werden Dinge thematisiert und formalisiert die wichtig sind, in anderen agilen Frameworks aber nicht erwähnt werden. Gleichzeitig sind sie aber eingebettet in eine Menge weiterer derartig unscharf formulierter Vorgaben, dass auf deren Basis praktisch alles möglich ist, unterstützender von Hilfe zur Selbstorganisation bis hin zu übergriffigem Hineinregieren in die Teams.


Um das Positive darin zu sehen - wenn man im Unternehmen ein Management mit einer (aus einer "agilen Perspektive") "richtigen" Einstellung hat, kann man seine Mitglieder als Business Owner auf passende, hilfreiche und sinnstiftende Weise einbinden. Wenn auf der anderen Seite eine eher "falsche" Einstellung vorherrscht, würde auch ein methodischer Rahmen ohne diese Rolle nur in begrenztem Ausmass für Verbesserung sogen. In diesem Sinn: gebt den BOs eine Chance.