Donnerstag, 22. September 2022

Organisatorische Kontaktinfektion

Bild: Unsplash / Rishabh Dharmani - Lizenz

Zu den interessanteren Artikeln der letzten Zeit gehört Kontaktinfektionen - Wie sich Organisationen einst über die Welt verbreiteten des Soziologie-Professors Stefan Kühl. Seine Kernaussage ist, dass sich Organisationen (Religionen, Wirtschaftsunternehmen, NGOs etc.) an den Orten in die sie neu expandieren Strukturen suchen, schaffen oder unterstützen, die den eigenen entsprechen. Auf diese Weise kommt es mit der Zeit zur Verbreitung ähnlicher Organisationstypen auf der ganzen Welt.


Diese "Infektion" der neu erschlossenen Orte mit Organisationsstrukuren die der eigenen ähnlich sind ist dabei von einer rationalen Überlegung angetrieben: die expandierende Organisation (bzw. deren neu gegründeter lokaler Ableger) möchte mit der neuen Umgebung kommunizieren. Da das aber am einfachsten mit gleich aufgebauten Organisationen möglich ist, werden diese gegenüber den anderen, inkompatiblen, bevorzugt und gefördert


Wenn man davon ausgeht, dass es sich dabei um ein verbreitetes Muster handelt, ist es möglich die Einführung agiler Arbeitsweisen unter einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Sowohl die klassische als auch die neue (agile) Organisationsweise unterliegen den selben Mechanismen wie alle anderen auch. Das heisst, dass sie im Fall eines Kontakts versuchen die jeweils andere Seite mit den eigenen Strukturen zu infizieren, um danach besser mit ihr kommunizieren zu können.


Die Kontaktinfektion der agilen durch die klassische Organisation findet vor allem durch den Versuch statt, dort hierarchisch höherstehende Funktions- oder Entscheidungsträger zu identifizieren oder zu etablieren, die dann zu präferierten Ansprechpartnern werden. Die Herausbildung der in den ursprünglichen agilen Frameworks nicht vorgesehenen Chief Product Owner, Release Train Engineers, Tribe Leads und ähnlichen Rollen ist eine Folge davon.


Auf der anderen Seite besteht die Kontaktinfektion der klassischen durch die agile Organisation darin, möglichst dezentrale und umsetzungsnahe Kommunikationsschnittstellen zu finden oder zu einzurichten. Der klassische Fall ist die Etablierung eines (in einem Umsetzungsteam verankerten) Product Owners, aber auch andere sind möglich, z.B. der Onsite Customer, der einen direkten Austausch zwischen Anwendern und Anwendungsentwicklern möglich macht.


Wenn aber beide Seiten bei Kontakt versuchen sich mit den jeweils eigenen Organisationsmustern zu infizieren ist ein Konflikt hochwahrscheinlich. Sowohl ein bisher selbstorganisiertes Team, das sich durch eine neue Koordinations-Rolle bevormundet fühlt, als auch ein bisher wichtiger Manager, der sich durch Absprachen auf der Umsetzungsebene übergangen fühlt, können durch die Verteidigung ihrer bisherigen Positionen aus die Kontaktinfektion zu einer Konflikteskalation machen.


Um bei der Analogie zu bleiben - wenn eine Organisationseinheit das Gefühl hat, durch die Infektion in ihrer Funktionsfähigkeit eingeschränkt zu werden, wird sie ihr "Immunsystem" aktivieren. In der Realität sieht das so aus, dass alles was mit dieser Art von Veränderungen in Verbindung gebracht wird isoliert und abgestossen wird - sowohl bei der Durchführung als auch beim Zurücknehmen von agilen Transformationen ein häufig zu beobachtendes Muster.


Will man das vermeiden hilft es sich noch einmal vor Augen zu führen, dass die organisatorische Kontaktinfektion einen zutiefst rationalen Ursprung hat - den Wunsch möglichst reibungslos kommunizieren zu können. Hier kann eine Lösungsfindung einsetzen: wenn es gelingt die Kommunikation zu ermöglichen ohne auf der jeweils anderen Seite Strukturen verändern zu müssen ist eine Infektion der Gegenseite nicht mehr nötig.


Natürlich wird auch das immer wieder Kompromisse und Verhandlungen erfordern, ein einfacher Weg ist es also nicht. Anders als im Fall einer Kontaktinfektion kann der Austausch hier aber auf Augenhöhe stattfinden, wodurch ein Grossteil des Konfliktpotentials entschärft wird.

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