Montag, 12. September 2022

Der Voldemort-Prozess

Bild: Wikimedia Commons / Kevin Dooley - CC BY 2.0

Zu den verschiedenen Spleens die sich in den letzten Jahrzehnten rund um die agile Produktentwicklung gebildet haben gehört auch die Überzeugung keine Prozesse zu brauchen. Vom agile Meetup um die Ecke bis zum Thought Leader aus Kalifornien (hier ein aktuelles Beispiel für letzteres) wird man immer wieder mit der Aussage konfrontiert, dass Prozesse etwas Schlechtes wären und so weit wie möglich zurückgedrängt werden müssten um produktiv arbeiten zu können.


Erklärbar ist das durch die Ursprungsgeschichte der agilen Bewegung. Nach einer ersten Phase, in der sie ein weitgehend unbemerktes Nischendasein führte, wurde sie lange Zeit von Managern als ein dysfunktionales oder wunderliches Konzept gesehen, das durch Regulierung "repariert" werden müsste (siehe auch hier). Die Abneigung gehen Standardisierungen oder Strukturierungen jeglicher Art kann als Gegenreaktion darauf verstanden werden.


Das Problem: ganz ohne Prozesse zu arbeiten ist schwierig bis unmöglich. Irgendwie muss man sich darauf einigen wann und wie Interaktionen stattfinden, wo Informationen abgelegt werden, auf welchen Kanälen man erreichbar ist, etc. Das muss nicht zwingend in einem telefonbuchdicken Prozess-Handbuch enden, es gibt auch schlanke, flexible und einfach anpassbare Formate, Prozesse bleiben es aber trotzdem (siehe auch hier).


Wenn jetzt aber aus der erwähnten grundsätzlichen Ablehnungshaltung heraus ein schriftliches Festhalten von Prozessen durchgehend nicht stattfindet führt das eben nicht dazu, dass sie verschwinden - stattdessen werden sie ins Inoffizielle und Implizite verschoben. Es ist zwar weiter so, dass vor dem Produktions-Realease ein Vier-Augen-Prinzip gilt, oder dass nicht alle zur selben Zeit Urlaub nehmen können, nur nachlesen kann man das nirgendwo.


Da das aber dem Anspruch widerspricht auf Prozesse zu verzichten wird manchmal sogar kategorisch abgestritten, dass sie überhaupt existieren und befolgt werden. Selbst bei wiederkehrenden Mustern wird unterstellt, dass es sich lediglich um situative Entscheidungen handelt ("Wir überlegen jedesmal was gerade Sinn machen könnte"). Angelehnt an die literarische Figur des Voldemort (He-Who-Must-Not-Be-Named) werden sie zu Voldemort-Prozessen,  die da sind aber einfach nicht thematisiert werden.


Dort wo es so weit gekommen ist werden fast zwangsläufig Probleme entstehen. Zunächst dadurch, dass die zwar existierenden aber nicht festgehaltenen und angesprochenen Prozesse nicht kommuniziert werden können. Sei es im Fall neuer Teammitglieder, die ein berechtigten Interesse am Arbeitsmodus haben, oder im Fall von Stakeholdern, die wissen wollen wen sie wie ansprechen können ohne Störungen zu verursachen - sie werden den "Process-That-Must-Not-Be-Named" nicht erfahren.


Mindestens genauso weitreichend ist aber auch die Wirkung nach Innen. Wenn bestehende Prozesse nicht mehr angesprochen werden können, dann ist es kaum noch möglich sie zu begutachten und bei Bedarf zu optimieren. Beziehungsweise: um das wieder zu können ist zuerst das schmerzhafte Zugeständnis erforderlich, sich aus Dogmatismus in eine kontraproduktive Tabuisierung verrannt zu haben (siehe auch hier). Das ist zwar unangenehm, oft aber auch dringend nötig.


Zuletzt eine Einordnung: sind die Voldemort-Prozesse in agilen Teams wirklich ein verbreitetes Phänomen, oder sind das eher Extremfälle? Wie so häufig - es kommt darauf an. Eine komplette Verleugnung aller Prozesse ist sehr selten, alleine schon weil sie z.T. von aussen vorgegeben werden. Bei teaminternen Prozessen ist die Verbreitung dagegen deutlich grösser, wer bewusst darauf achtet wird vermutlich mehr davon vorfinden als er zunächst denkt.

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