Donnerstag, 4. Dezember 2025

Die Doppel-Organisation

Ich bin schon seit Langem der Meinung, dass sich viele Konzepte der Politikwissenschaft auch für die Analyse grosser Organisationen nutzen lassen und habe das auch schon mehrfach getan (z.B. hier, hier, hier und hier).  Ein weiteres, das ich für hilfreich halte ist das der doppelten Organisation, abgeleitet von der 1940 verfassten Studie Der Doppelstaat des deutsch-amerikanischen Juristen und Politikwissenschaftlers Ernst Fraenkel.


Bevor es damit losgeht macht der Hintergrund von Fraenkels Werk aber eine Klarstellung nötig - er benutzte es um die öffentliche Verwaltung des 3. Reiches zu beschreiben. Eine Übertragung auf moderne Organisationen soll explizit niemanden der dort arbeitenden Menschen mit einem Nationalsozialisten gleichstellen. Es geht vielmehr um das Aufzeigen von Wirkungszusammenhängen, die in bestimmten Kontexten auftreten können.


Das von Fraenkel identifizierte Grundmuster besteht daraus, dass es in bestimmten Fällen dazu kommen kann, dass in der staatlichen Verwaltung zwei grundsätzlich verschiedene Organisations-Prinzipien parallel zueinander bestehen und sich zum Teil überlagern: der statische Normenstaat und der dynamische Massnahmenstaat. Sie treten dann gleichzeitig auf, wenn versucht wird, wesentliche Ziele der Verwaltung zu verändern, ohne ihre elementaren Funktionen zu beschädigen.


Der Normenstaat, bzw. seine Angehörigen, haben dabei das Interesse, die Einhaltung der bestehenden Regeln und Standards sicherzustellen, und so dafür zu sorgen, dass das Verwaltungshandeln verlässlich, planbar, überprüfbar und nachvollziehbar ist. Das ist auch grundsätzlich richtig und wichtig, kann aber bei übermässigem Beharren auf dem Ist-Zustand das Risiko mit sich bringen, dass notwendige Veränderungen verwässert, lange verzögert oder schlimmstenfalls sogar unmöglich gemacht werden.


Um diese Erstarrungseffekte zu verhindern ist es notwendig, den Normenstaat von Zeit zu Zeit zu reformieren, und zwar so, dass auf der einen Seite notwendige Veränderungen zulässig und machbar werden, auf der anderen Seite aber so viel Berechenbarkeit, Verlässlichkeit und Überprüfbarkeit übrig bleiben, dass ein Abgleiten in Chaos und Willkür verhindert wird. Dieser Weg ist sinnvoll, aber langwierig, anstrengend und in seinen Ergebnissen von Kompromissen geprägt.


Wenn jetzt auf den Entscheidungspositionen Menschen sitzen, denen dafür die Geduld oder die Kompromissbereitschaft fehlen, ist es verlockend, eine "Abkürzung" zu nehmen: parallel zum Normenstaat wird eine zweite Struktur aufgebaut, die frei von Beschränkungen, Hemmungen und langwierigen Aushandlungsprozessen Veränderungen anstossen und durchsetzen soll. Diese zweite, parallele Struktur ist der Massnahmenstaat.


Wenn der Massnahmenstaat in der Lage ist, den Normenstaat im Konfliktfall ausser Kraft zu setzen, tut er das allerdings nicht flächendeckend sondern nur punktuell. Die anderen Teile werden intakt gelassen, da sie wesentliche Funktionen erfüllen, wie etwa die Instandhaltung von Infrastruktur und das Generieren von Einkommen. Es kommt daher zu dem oben erwähnten Nebeneinander (und z.T, Gegeneinander) der beiden unterschiedlichen Erscheinungsformen.


Die Parallelen zu vielen Grossorganisationen sind offensichtlich. Auch hier kommt es in Notsituationen, nach Managementwechseln oder in sonstigen Sonderzuständen immer wieder dazu, dass diejenigen offiziellen Prozesse, die gerade als bremsend wahrgenommen werden, "kurzgeschlossen" werden, um Entscheidungen schneller durchzusetzen (man spricht dann auch vom "Durchregieren"). Da andere Prozesse unverändert weiterbestehen, entsteht auch hier eine Doppel-Organisation.


Auf den ersten Blick mag das wie ein notwendiges Übel erscheinen, das in Kauf genommen werden kann um Handlungsfähigkeit herzustellen, allerdings führt es zu einem weiteren Problem, dass auch Fraenkel schon im Doppelstaat identifizierte: das Neben- und Gegeneinander von Normen und Massnahmen führt zu Konflikten und Blockaden, zu deren Beseitigung neue Massnahmen ergriffen werden, die zu neuen Blockaden führen, wodurch neue Massnahmen ergriffen werden, etc, etc.


Das in vielen kriselnden Unternehmen anzutreffende Phänomen erstaunlich vieler und erstaunlich wirkungsloser Beschleunigungsprogramme, Steuerungsgremien, Task Forces, und  Delivery Initiativen lässt sich mit dem Vorhandensein einer derartig wuchernden Doppel-Organisation erklären, die durch eine kontinuierliche Verschlimmbesserung von Prozessen ständig ihre eigenen Ziele verfehlt und gleichzeitig unbeabsichtigt ihre Umgebung behindert und verunsichert.


Wenn es nicht dazu kommen soll, ist es der bessere Weg, sich auf das strukturierte aber langwierige, anstrengende und in seinen Ergebnissen von Kompromissen geprägte Reformieren der gegebenen Normen einzulassen. Es wird zwar nur selten zu schnellen Lösungen führen, dafür werden die Ergebnisse konsistenter, stabiler, beständiger und am Ende konfliktfreier sein. Oder mit anderen Worten: statt der Doppel-Organisation kann eine in sich stimmige neue Organisation entstehen.

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