Montag, 16. August 2021

Wie man Agile für tot erklärt (eine Anleitung)

Grafik: Pixabay / Revzack - Lizenz

Du kommst aus dem (IT-)Produkt- oder Projektmanagement? Du möchtest Deinen Bekanntheitsgrad erhöhen? Du möchtest als Sprecher auf Konferenzen eingeladen werden und Artikel in Fachpublikationen veröffentlichen? Dann ist das hier die Möglichkeit für Dich - Du musst nichts weiter tun als zu verkünden dass "Agile", der zur Zeit dominierende Denkansatz, tot ist. Das ist mittlerweile ein bewährtes Vorgehen, so bewährt sogar, dass es eine Blaupause dafür gibt. Hier ist sie:


I. Bau Deine Reputation auf

Zu Beginn Deines Vortrages oder Artikels solltest Du hervorheben wie relevant Deine Meinung ist. Praktischerweise kannst Du dafür alles als Beleg nennen - wenn Du schon lange mit agilen Frameworks arbeitest bist Du die weise Koryphäe, mit wenig Erfahrungen bist Du einer der jungen Wilden, wenn Du gar keine hast bist Du der unbefangene und sachliche Beobachter ausserhalb des Systems. Egal was es ist, Du kannst es als Grund dafür nennen, dass gerade Du zu originellen Gedanken in der Lage bist.


II. Verteile vergiftetes Lob

Auf gar keinen Fall solltest Du sagen, dass Agile schon immer Mist war, damit erzeugst Du zu frühen Wiederspruch. Streiche heraus, dass die Verfasser des Agilen Manifests bahnbrechende Pioniere waren, denen nur Hochachtung gebührt. Lass aber auch Relativierungen einfliessen, etwa, dass das Manifest "zur damaligen Zeit" genau das Richtige war, oder dass es die Arbeit "auf der Team-Ebene" revolutioniert hat. Selbst wenn Du es nicht aussprichst, jeder wird spüren, dass gleich ein "aber" folgen wird.


III. Prangere vermeintliche Unzulänglichkeiten an

Hier kannst Du kreativ sein. Egal ob "Agile funktioniert nicht in grösseren Organisationen", Agile funktioniert nicht mit Product Discovery" oder "Agile funktionier nicht in bestimmten Ländern" - je steiler die These desto besser. Empirische Belege dafür brauchst Du keine, es reicht anekdotische Evidenz, also eigene Erfahrungen (die keiner überprüfen kann). Ein schöner Seiteneffekt: Gegenbeispiele kannst Du als "verkopft" und theoretisch" abtun wenn Du sie nicht selbst erlebt hast.


IV. Hebe einzelne bekannte Negativ-Beispiele hervor

Zum Glück kannst Du hier aus dem vollen Schöpfen. Nimm irgendein Beispiel eines (angeblich) agil organisierten Vorhabens das schiefgelaufen ist und erhebe es zum Beweis, dass Deine persönlichen Erfahrungen universell richtig sind. Wenn Du weisst welcher methodische Ansatz dort verwendet wurde kannst Du zur Verstärkung Elemente aus dem Kontext reissen und Dich über sie lustig machen, etwa über das Wimmelbild auf der SAFe-Startseite oder über Begriffe wie Tribe und Gilde.


V. Immunisiere Dich

Irgendwann wirst Du es nicht mehr vermeiden können Dich mit Beispielen geglückter Umsetzung der agilen Frameworks auseinanderzusetzen. Dem kannst Du zuvorkommen indem Du selbst einige davon aufführst, aber mit einem überraschenden Dreh: behaupte, dass diese Organisationen nur deshalb erfolgreich sind weil sie das Vorgehen an ihre Bedürfnisse angepasst haben. Je nach der Agenda die Du verfolgst kannst Du sie dann als "nur noch eingeschränkt agil" oder sogar "post-agil" bezeichnen.


VI. Begeistere alle mit einer alternativen, besseren Lösung

Auf zum grossen Finale. Nachdem Du alle davon überzeugt hast, dass Agile wirklich tot ist bleibt nur noch Eines zu tun - die Alternative zu benennen. Je nach Deinen persönlichen Vorlieben (oder Deinen politischen Absichten) kann die darin bestehen alles wieder stärker zu steuern und zu kontrollieren, es kann aber auch Dein neuer, "post-agiler" Ansatz sein, mit dessen Vermarktung Du vorhast Geld als Berater oder Vortragsredner zu verdienen. Du machst das alles ja schliesslich nicht umsonst.


Und das war es auch schon. Nur sechs einfache Schritte und schon ist Agile tot und Du als neuer Thought Leader etabliert. Angesichts der Tatsache, dass das Ganze mit dieser Blaupause zu einer wirklich einfachen Übung wird ist es kein Wunder, dass das bereits seit Jahrzehnten von zig verschiedenen Leuten nach genau diesem Muster gemacht wird. Nur gut, dass die Agilität in all der Zeit noch nicht gestorben ist, so dass man sie immer wieder erneut für tot erklären kann.


[Ironie off] Inspiriert ist dieser Text von Jahn Meckes Artikel Agile is Dead (So is COBOL, XP, RAD, UML, SAFe, etc) und von zu vielen "Agile is Dead"-Meinungsbeiträgen in den letzten 10 Jahren. Meine persönliche Meinung: Agile wird zwar irgendwann in Vergessenheit geraten, aber nicht so wie in diesen Beiträgen beschrieben sondern aus banaleren Gründen. Mehr dazu hier.

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