Montag, 15. November 2021

Story Points sind Schweine

Bild: Wikimedia Commons / Nela König /Hot Action Records - CC BY-SA 3.0

Eine Anekdote aus der Musik: einer der grössten Hits der legendären Band Die Ärzte trägt den schönen Namen Männer sind Schweine. Das Besondere an ihm ist, dass die Ärzte bereits kurz nach seiner Veröffentlichung 1998 aufhörten ihn aufzuführen - seine Beliebtheit auf Volksfesten, Schlager- und Ballermann-Partys führte dazu, dass sie als Punk-Gruppe mit diesem Umfeld nicht in Verbindung gebracht werden wollten. Sie verstiessen daher dieses "kontaminierte" Lied aus ihrem Repertoire.


Die Tragweite dieser Entscheidung wird klar wenn man sich vor Augen hält, dass "Männer sind Schweine" bis heute das komerziell erfolgreichte und (über alle Bevölkerungsgruppen hinweg) vermutlich auch bekannteste Werk der Ärzte ist. Das nicht mehr aufführen zu wollen ist ein bemerkenswertes Statement und lässt Rückschlüsse darauf zu, wie stark ihre Abscheu vor der Schlager- und Ballermann-Szene sein muss und was sie bereit waren zu opfern um zu ihr auf Abstand zu bleiben.


Um die Anekdote zu beenden und wieder zum Hauptthema dieser Seite zurückzukommen: vergleichbare Abstossungs-Vorgänge wie den gerade beschriebenen gibt es auch im Umfeld der agilen Frameworks. Auch hier gibt es extrem populäre Konzepte die wegen ihrer Beliebtheit bei einer als unpassend empfundenen Zielgruppe von vielen kaum noch genutzt werden. Und wer die Geschichte der "agilen Bewegung" kennt wird die "unpassende Zielgruppe" ahnen - es ist das Management.


Das vielleicht bekannteste (weil verbreitetste) Beispiel dafür sind die aus dem Extreme Programming stammenden Story Points. Selbst ihr (Mit-)Erfinder Ron Jeffries bedauert mittlerweile sie erfunden zu haben, auch von anderen bekannten Agilisten wie z.B.  Allen Holub, Troy Magennis und Joshua Kerievski werden sie kritisch gesehen. Der Grund dafür ist die Gewohnheit vieler Manager (v.a. im SAFe-Kontext) sie zu normieren, vorzuschreiben und als Grundlage für langfristige Detailplanung zu benutzen.


Ein weiteres ist das so genannte Spotify Model, ein bei der gleichnamigen schwedischen Firma entwickelter Skalierungsansatz. Auch hier hat mit Joakim Sundén einer der Erfinder mittlerweile eine eher kritische Einstellung, genau wie andere bekannte agile Practitioner, z.B. Ben Linders und Willem-Jan Ageling. Und auch hier ist die Ursache für die Ablehnung eine Begeisterung bei "den falschen Menschen", in diesem Fall Managern die den Ansatz unreflektiert als Blaupause benutzen wollen.


Neben diesen weit verbreiteten gibt es zusätzlich zahllose weitere eher lokale Beispiele dafür, dass agile Teams und Enthusiasten von bestimmten Frameworks und Praktiken abwenden weil sie "den falschen Menschen" in die Hände gefallen sind. Abstossungen die ich in verschiedenen Firmen gesehen habe betrafen unter anderem Burndown Charts, Scrum, Kanban, OKRs, Communities of Practice, Definition of Done, Definition of Ready und sogar die Begriffe Agile und Lean.


Auf einen ersten Blick kann ein solches Aufgeben "kontaminierter" Begriffe und Konzepte Sinn ergeben. Man erspart sich Konflikte und Prozessdiskussionen und kann das was man eigentlich erreichen will stattdessen unter einem anderen anderen Namen unverändert vorantreiben (z.B. DevOps statt Agile oder T-Shirt Size statt Story Points). Das Ausweichen in derartige Fluchtvarianten ist damit ein scheinbar bequemer Ausweg.


Auf den zweiten Blick werden allerdings Probleme sichtbar. Da die aufgegebenen Begriffe und Konzepte nicht verschwinden sondern von den "falschen Menschen" weiterhin verwandt werden kann es zu Auseinandersetzungen zwischen den Befürwortern verschiedener Ansätze kommen. Und das möglicherweise sogar wiederholte Ausweichen auf andere Benennungen kann zur so genannten "Euphemismus-Tretmühle" führen (mehr dazu hier).


Wesentlich zielführender ist es, den Konflikt anzunehmen und auf zivilisierte Weise auszutragen. Ein erster Schritt kann dabei sein zu erkennen, dass es gar keine "falschen Menschen" gibt sondern auch diese im Regelfall guten Intentionen und rationalen Erwägungen folgen. Auf dieser Basis herauszuarbeiten, dass die "Originalversionen" der agilen Frameworks eher zum Ziel führen als Blaupausen und Abkürzungen kann anstrengend sein, im Zweifel ist es aber der nachhaltigere Weg.


Selbst wenn das Ausweichverhalten stattgefunden hat ist ein Umsteuern noch möglich. Da die Deutungshoheit über die agilen Begriffe und Buzzwords mittlerweile ausserhalb der Unternehmen und Unternehmensberatungen liegt lässt sich eine missverstandene oder verdrehte Bedeutung auf Dauer kaum aufrechterhalten und kann korrigiert werden. Und auch dafür, dass es dafür nie zu spät ist sind die Ärzte ein gutes Beispiel: nach mehr als 10 Jahren Pause wird Männer sind Schweine mittlerweile wieder von ihnen gespielt.

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