Montag, 20. Mai 2024

Agile vs Lean

Eine Frage, die unter Methodikern und Theoretikern gerne und ausgiebig diskutiert wird, die man als Berater aber auch immer wieder beim Kunden gestellt bekommt, ist die nach dem Unterschied zwischen Agil und Lean. Ist das nicht irgendwie ähnlich oder sogar identisch? Dreht sich nicht beides darum, das eigene Vorgehen durch ständige Verbesserung so zu optimieren, dass man effektiver, effizienter und reaktionsfähiger wird?


Bevor ich eine Antwort darauf versuche, ein Disclaimer: weder Agil noch Lean sind abschliessend definiert. Es gibt zwar das Manifest für agile Softwareentwicklung als zentrales Dokument, das aber nur sehr abstrakte Richtlinien vorgibt, und auf der Lean-Seite das ebenfalls nur Richtlininien vorgebene Toyota Production System. Darüber hinaus gibt es auf beiden Seiten nur noch optionale Praktiken und Sekundärliteratur. Aus all dem sind aber Definitionen ableitbar.


Der offensichtlichste Unterschied dürfte der Einsatzbereich sein. Agil wird fast ausschliesslich in der Produktentwicklung gearbeitet,1 also dort, wo sich die Herausforderungen aus (noch) unklarer Anwender-Akzeptanz, technischer Machbarkeit, etc. ergeben. Lean ist im Gegensatz dazu vor allem in der seriellen Fertigung verbreitet,2 die Herausforderungen hier sind Betrieb und Stabilisierung extrem grosser und fehleranfälliger Fertigungsstrassen, Lieferketten, o.ä.


Beiden Arten von Herausforderung wird versucht mit ähnlichen Mitteln beizukommen, die auf der agilen Seite unter dem Schlagwort Inspect & Adapt zusammengefasst werden und auf der Lean-Seite unter den Begriffen Kontinuierliche Verbesserung (KVP) oder Kaizen. Beides dreht sich um ständige Optimierungen. Was aber grundsätzlich unterschiedlich ist, ist das im Mittelpunkt dieser Bemühungen stehende Objekt: im Fall von Agil ist es das Produkt, im Fall von Lean ist es der Prozess.


Im Fall von agilem Arbeiten sieht das konkret so aus, dass in den Inspect & Adapt-Terminen entweder neue oder geplante Funktionen mit Anwender-Vertretern oder Stakeholdern begutachtet werden (z.B. im Sprint Review) oder dass in ihnen überlegt wird, was getan werden kann um diese gemeinsame Begutachtung in kurzen Zyklen zu ermöglichen oder beizubehalten (z.B. in der Retrospektive). Es können natürlich auch andere Aspekte zur Sprache kommen, die sind aber im Vergleich sekundär.


Umgekehrt geht es in den KVP- und Kaizen-Events in erster Linie darum, den Erstellungsprozess eines Produkts (oder Teilprodukts) schneller, ressourcenschonender, weniger störungsanfällig oder vorhersagbarer (in Bezug auf Durchlaufzeiten oder Wartungsintervalle) zu gestalten.3 Auch hier ist es möglich, dass Impulse für die Produktentwicklung entstehen, die werden dann aber nicht selbst realisiert sondern in die vorgelagerten (agil arbeitenden) Produktentwicklungsprozess weitergeleitet.


Wie immer gibt es natürlich auch hier Grauzonen und Uneindeutigkeiten. Wenn es z.B. im Rahmen einer auf die Fertigungsprozesse bezogenen Kostensparmassnahme dazu kommt, dass ein anderer Werkstoff verwendet wird als bisher, dann kann das auch zu einer Veränderung des Produkts führen (das dann z.B. leichter ist). Und einen "historisch gewachsenen" Begriff wie Lean Startup hätte man im Rückblick besser "Agile Startup" genannt, um Missverständnisse zu vermeiden.


Im Grossen und Ganzen ist die Gleichung Agil = kontinuierliche Produkt-Optimierung und Lean = kontinuierliche Prozess-Optimierung aber gut geeignet um zu erkennen mit was man es gerade zu tun hat. Aufbauend darauf kann es dann auch leichter werden, Handlungsfelder, Zuständigkeiten und Handlungsoptionen zu definieren, aufzuteilen oder zusammenzulegen. Auch das sollte übrigens Teil einer kontinuierlichen Optimierung sein.



1Der Begriff "Produkt" ist hier weit gefasst und enthält neben physischen Produkten auch digitale Produkte, Dienstleistungsprodukte, etc.
2Und in Umfeldern mit stark standardisierten Tätigkeiten, z.B. Systemgastronomie oder Callcenter
3Anders als man denken könnte ist das nichts womit man irgendwann fertig ist, sondern eher einen ständiges Austarieren

Donnerstag, 16. Mai 2024

Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte (XLII)

Bild: Comic Agile - CC BY-NC 4.0

Wer agiles Arbeiten nur mit digitalen Tools kennt, wird angesichts dieses Comics vielleicht etwas ratlos sein. Alle die es mit Post Its an Wänden kennen wissen, dass er witzig ist und dass es wahr ist.

Montag, 13. Mai 2024

Das agile Mindset (II)

Bild: Pexels / Yan Krukau - Lizenz

Ein Hoch auf die Wissenschaft! Diesesmal in Person von Karen Eilers, die an der Universität Kassel eine Wirtschaftsinformatik-Dissertation mit dem klangvollen Titel The Agile Mindset – Why it Matters, What it is, and How to Measure it verfasst hat. Was sie in diesem Rahmen an Erkenntnissen gewinnen konnte und wie sie diese zusammengetragen hat, hat sie in einem ausführlichen Gespräch in dem Podcast Agile World News erzählt.



An dem hier beschriebenen Ansatz gibt es einiges, das ich bemerkenswert finde, bereits angefangen damit, dass versucht wird dem Begriff "Mindset" seine Unschärfe zu nehmen. Es wird anerkannt, dass er sehr offen interpretiert werden kann und sehr unklar zu anderen Begriffen wie "Einstellung", "Haltung" und "Mentalität" abgegrenzt ist. Die hier gewählte Definition mag vielleicht nicht jeder teilen, aber zumindest gibt es hier eine. Eine sachliche Diskussion wird dadurch überhaupt erst möglich.


Ebenfalls erwähnenswert finde ich, dass das agile Mindset (Vorhandensein, Ausprägungen, etc.) in diesem Ansatz nicht mehr etwas ist, dass von aussen durch Zuschreibung oder "Diagnose" entsteht (was dort wo man es versucht fast zwangsläufig zu übergriffigem Verhalten führt). Stattdessen wird davon ausgegangen, dass es bei allen agil arbeitenden Menschen irgendwie vorhanden ist und nur noch durch Empirie identifiziert werden muss (vereinfacht gesagt: was oft genannt wird gehört dazu).


Die vier Themengebiete, die in der Dissertation am häufigsten identifiziert wurden und die in ihr daher als typisch oder konstituierend für ein agiles Mindset gelten, sind Lern-Orientierung, kollaboratives Arbeiten, Co-Creation mit den Kunden und Selbstorganisation. Das klingt passend zu dem Arbeitsmodus, den man meistens unter der Bezeichnung "agil" vorfindet, ist aber auch darüber hinaus spannend: letztendlich handelt es sich um eine Selbstbeschreibung (und damit Selbstwahrnehmung) der agilen Community.


Lern-Orientierung

Wenig erstaunlich. Lernorientierung ist u.a. das, was man in agilen Teams auch als Growth Mindset bezeichnen würde, also die Anerkennung der Tatsache nicht alles zu wissen, die Bereitschaft sich neues Wissen anzueignen, z.B. in Reviews, Retrospektiven, etc.


Kollaboratives Arbeiten

Ebenfalls erwartbar, da in den meisten agilen Teams Teil der täglichen Arbeit: gemeinsame Meetings, gemeinsame Arbeit an Anforderungen und ähnliche Praktiken beseitigen Kopfmonopole und Flaschenhälse und machen so den Arbeitsfluss schneller und resilienter.


Co-Creation mit den Kunden

Spannend, da hier etwas (aus meiner Sicht richtigerweise) als wesentlich beschrieben wird, was in der Realität oft nur eingeschränkt stattfinden kann. Hier könnte weitergeforscht werden, ob das Wunsch oder Wirklichkeit ist (vor allem in grossen Organisationen werden oft Kunde und Auftraggeber verwechselt).


Selbstorganisation

Ebenfalls ein wichtiges und richtiges Thema, bei dem ein tieferes Erforschen interessant wäre. Obwohl sich tatsächlich praktisch alle agil arbeitenden Teams als selbstorganisiert bezeichnen dürften, sind das Verständnis dieses Begrifft und die Ausgestaltung in der Realität extrem vielfältig.


Über diese ersten Einordnungsversuche hinaus ist für mich noch etwas weiteres auffällig: die vier identifizierten Kernbereiche sind sehr stark auf den Ebenen der Einzelpersonen und der sozialen Beziehungen in Umsetzungsteams angesiedelt. Die Aspekte der technischen Agilität aus DevOps, XP, etc. und der wirtschaftsnahen Business-Agilität kommen nicht vor, was ein Hinweis darauf sein könnte, dass vor allem Scrum Master (o.Ä.) und nur wenige Entwickler und Manager befragt wurden.


Die Arbeit bietet also einiges an Erkenntnissen, aber auch einiges an weiteren Forschungspotentialen und Denkanstössen. Es ist zu hoffen, dass diese Themen in Kassel und anderswo weitergeführt werden, so dass sich die Diskussion um das agile Mindset weg von starken Meinungen und hin zu gesicherten Ergebnissen bewegen kann. Denn auch das ist etwas, was für mich zu einem agilen Mindset gehören sollte: der Drang, empiriebasiert zu arbeiten.

Donnerstag, 9. Mai 2024

Compliance & Regulatory Standards are NOT Incompatible with Modern Development

Das was Charity Majors in diesem Vortrag als "moderne Softwareentwicklung" bezeichnet, ist das was ich als Agilität bezeichnen würde: kleine Incremente schnell auf Produktion bringen um schnelles Feedback zu bekommen und schnell darauf reagieren zu können. Und genau wie ich scheint sie regelmässig mit der Aussage konfrontiert zu werden, dass das in regulierten Branchen nicht möglich wäre. Um so dankbarer kann man ihr dafür sein, dass sie klarstellt, dass das sehr wohl geht.



Für alle, die keine Geduld haben, sich die ganzen 40 Minuten ihres Videos anzusehen, habe ich eine Empfehlung: ab Minute 14:27 klickt sie sich in einem Schnelldurchlauf von 30 Sekunden durch 13 Folien, auf denen dargestellt wird, wie 13 verschiedene Firmen ihre Entwicklungsprozesse gleichzeitig modern und compliant gehalten haben (es emfiehlt sich, das Video auf jeder Folie kurz zu stoppen). Man sieht daran, dass es geht - man muss es nur wollen und machen.

Montag, 6. Mai 2024

Die Evolution der OKRs

Sobald ein agiles Framework ein gewisses Alter überschritten hat, entstehen in der Regel nach und nach verschiedene Varianten, die anfangs noch aufeinander aufbauen, später aber parallel zueinander existieren. Das ist bei Scrum und bei Kanban so gewesen, und es ist auch bei Objectives und Key Results (OKR) so. Da die neueren OKR-Varianten sich z.T. zu erstaunlich schwerfälligen Prozessframeworks entwickelt haben, lohnt ein Blick zurück - denn eigentlich ist es ursprünglich anders gedacht gewesen.


Wie immer bei derartigen Übersichten ist auch diese hier subjektiv, sie umfasst aber meiner Meinung nach die wichtigsten Spielarten und Entwicklungsstufen, bzw. die wichtigsten Vordenker. In der Realität dürften darüber hinaus noch zahlreiche Abwandlungen und Mischtypen anzutreffen sein, diese Liste hier dürfte aber die relevanten umfassen (wenn ich etwas übersehen haben sollte, freue ich mich über einen Hinweis, der hier abgegeben werden kann). Aber zur Sache, hier sind die Evolutionsstufen:


MBOSC (Management by Objectives and Self-Control)

Eine Früh- oder Vor-Version der heutigen OKRs, beschrieben in den 50er Jahren von Peter Drucker in seinem Buch The Practice of Management. Mit dezentraler Planung, Trennung von abstrakten Zielen und konkreten Ergebnissen und mit Zyklen von weniger als einem Jahr waren die Grundzüge der heutigen Praktiken bereits enthalten. Unter dem Namen Management by Objectives (MBO) wurde Druckers Ansatz leider später zu einem jährlichen Kontroll- und Budgetierungsinstrument verfremdet (siehe hier).


Ursprüngliche OKRs (Intel MBOs)

Die Ursprungsversion, entwickelt in den 70er Jahren von Intel-CEO Andy Grove und beschrieben in seinem Buch High Output Management. Grove definierte neben den abstrakten Zielen (Objectives), den konkreten Ergebnissen (Key Results) und den kurzen Zyklen (maximal ein Jahr) kaum Vorgaben zur Umsetzung, entwickelte aber schon die Idee "kaskadierender Objectives", die auf den unteren Hierarchie-Ebenen in Teilziele heruntergebrochen werden, und von denen jede eigene Key Results hat.


"Die" OKRs (Google OKRs)

Die Variante, die berühmt geworden ist. Der ehemalige Intel-Mitarbeiter John Doerr führte die OKRs bei Google ein, wo sie um weitere Teile ergänzt wurden, u.a. um die Begrenzung des Zyklus auf ein Quartal, um die Differenzierung in "committed" und "aspirational OKRs", die Einführung gemeinsamer OKRs für mehrere Teams und um eine nachträgliche Bewertung in Ampelfarben. Das von vielen anderen Firmen kopierte Google OKR Playbook findet sich abgedruckt in Doerrs Buch Measure What Matters.1


Silicon Valley OKRs

Die verschiedenen Unternehmen des Silicon Valley, die als erste den OKR-Ansatz von Google übernommenen haben, haben ihn mit der Zeit ebenfalls weiterentwickelt. Die bekanntesten Praktiken findet man zusammengefasst in Cristina Wodkes Buch Radical Focus, zu ihnen gehört u.a. die Beschränkung auf nur ein einziges, nach Möglichkeit firmenweites Objective pro Zyklus,2 die dezentrale Erarbeitung der Key Results durch die Teams und die Einführung regelmässiger OKR-Meetings.


Scrumifizierte OKRs

Wer auf die Idee gekommen ist, die OKR-Meetings analog zu denen aus Scrum zu organisieren, lässt sich vermutlich nicht mehr feststellen, aber er hat einen Trend gesetzt. OKR-Plannings, OKR-Dailies/Weeklies, OKR-Reviews und OKR-Retrospektiven sind mittlerweile weit verbreitet, und für die Organisation und Moderation dieser Termine gibt es einen an den Scrum Master oder Agile Coach angelehnten OKR Master oder OKR Coach.3


Agile Industrial Complex OKRs

Dass angessichts dieser Geschichte einer immer stärkeren Formalisierung auch das Kommerzialisierungs-Potential gestiegen ist, dürfte wenig überraschen. Der agil-industrielle Komplex hat seit ca 2020 auch die OKR-Idee mit weiteren Regeln, Rollen, Formulierungs-Templates, prozessunterstützender Software und Ähnlichem überflutet, die dann in den Trainings und Zertifizierungsprüfungen auftauchen können. Genau wie im Fall von Scrum und Kanban übrigens mit teuren aber meistens überschaubaren Ergebnissen.


Gerade vor dem Hintergrund dieser letzten "Evolutionsstufe" ist es nicht verwunderlich, dass OKRs vor allem in grossen Organisationen eher als Management-Mode wahrgenommen werden und weniger als etwas Sinnvolles. In derartigen Fällen können die hier verlinkten Grundlagen-Bücher gegebenenfalls Klarheit bringen. Aus ihnen lässt sich erkennen, was der eigentliche Kern der Idee ist, und bei was es sich um Overhead handelt, der auch weggelassen werden kann.



1Das Playbook ist übrigens nicht mehr ganz aktuell, Google hat seinen OKR-Ansatz seitdem weiterentwickelt
2Daher auch der Name des Buchs
3Möglicherweise ist der Hintergrund der, dass Scrum ursprünglich keinen mittelfristigen Planungshorizont hatte, und Scrum Teams sich diese mit Hilfe von OKRs gesetzt haben. Das wäre dann seit dem 2020 in Scrum aufgenommenen Produktziel eigentlich obsolet.

Freitag, 3. Mai 2024

Larman's Law (III)

Bild: Pixabay / kirill_makes_pics - Lizenz

Mit der Zeit haben sich viele Menschen Gedanken über die ungeschriebenen Gesetze der Organisationsentwicklung gemacht und versucht sie (auf manchmal seriöse, manchmal aber auch eher zynische Art) auf Papier zu bringen. Besonders produktiv war dabei Craig Larman, der Erfinder von LeSS, der insgesamt fünf Gesetze verfasst hat, die er Larman's Laws of Organizational Behavior genannt hat. Heute soll es hier um das Dritte von ihnen gehen. Es lautet:


[...] any change initiative will be derided as “purist”, “theoretical”, “revolutionary”, "religion", and “needing pragmatic customization for local concerns” - which deflects from addressing weaknesses and manager/specialist status quo.


Diese Gesetzmässigkeit, die als Ergänzung zu Larmanns erstem Gesetz gedacht ist (demzufolge Organisationen unbewusst darauf optimiert sind, Management- und Spezialistenpositionen zu schützen), ist tatsächlich eine, die in vielen, vor allem grossen, Firmen zu beobachten ist. Im Hinblick auf Veränderungsvorhaben jeglicher Art ist sie problematisch, wie im Fall des ersten Gesetzes findet man bei näherer Betrachtung aber auch nachvollziehbare Aspekte.


Ein Grossteil aller Veränderungsvorhaben krankt daran, dass versucht wird, Dinge die in einem völlig anderen Kontext entwickelt wurden, Eins zu Eins auf die eigene Organisation zu übertragen. Im schlimmsten Fall kann das zu Stilblüten führen wie der, dass ein italienischer Konzern versucht, das Organisationsmodell eines schwedischen Startups unverändert auf sich zu übertragen. In solchen Fällen wäre weniger Dogmatismus und mehr Anpassung gut.


Problematisch wird dieses an sich sinnvolle Vorgehen aber, wenn der andere Kontext und die dadurch nötigen Anpassungen instrumentalisiert werden, um die geplanten Neuerungen so weit wie möglich zu unterlaufen, und zwar auch dann wenn sie umsetzbar und sinnvoll wären. Aussagen wie "Wir können nicht 'Agile by the Book' machen, wir sind in einer gesetzlich regulierten Branche" sind Klassiker unter den als Realismus getarnten Ausreden, die in solchen Situationen immer wieder vorgebracht werden.


Das was den Umgang mit derartigen Unterlaufungsversuchen schwierig macht, ist ihre scheinbare Rationalität. Nicht nur erscheinen sie auf den ersten, flüchtigen Blick vernünftig, ihre scheinbare Praxisnähe ermöglicht es demjenigen der sie vorbringt im Umkehrschluss, die von ihm abgelehnten Ansätze als realitätsfern, ideologisch oder ähnliches zu diskreditieren. Genau diese Verhaltensweisen werden in Larmanns zweitem Gesetz beschrieben.


Der beste Umgang mit derartigen Situationen ist es, sich gar nicht erst auf die Diskussion einzulassen, ob ein neuer Ansatz dogmatisch ist oder nicht. Zielführender und erfolgsversprechender ist es, in Erinnerung zu rufen, welche aktuellen Missstände durch ihn beseitigt werden sollen, und dass eine Debatte über angeblichen Dogmatismus nur dazu führen würde, dieses Problem, bzw. dessen Lösung aus den Augen zu verlieren. So wird eine Rückkehr zur Sachlichkeit ermöglicht.

Dienstag, 30. April 2024

Kommentierte Links (CXIII)

Grafik: Pixabay / Geralt - Lizenz
Das Internet ist voll von Menschen, die interessante, tiefgründige oder aus anderen Gründen lesenswerte Artikel schreiben. Viele dieser Texte landen bei mir, wo sie als „Food for Thought“ dazu beitragen, dass auch mir die Themen nicht ausgehen. Wie am Ende jedes Monats gibt es auch diesesmal wieder eine kommentierte Übersicht über die erwähnenswertesten.

Jeff Gothelf: Why is it so hard to admit there’s uncertainty in our work?

Meine Theorie ist, dass ein grosser Teil der oft fehlenden Akzeptanz agilen Arbeitens darin begründet ist, dass die Menschen es sich nicht eingestehen wollen, in einer nur eingeschränkt planbaren Arbeitsumgebung tätig zu sein. Jeff Gothelf geht an dieser Stelle tiefer ins Detail und versucht zu ergründen, warum das schwerfallen kann. Verkürz gesagt: weil (das Eingeständnis von) Ungewissheit unangenehm ist und weil man einmal geäusserte Annahmen und Zusagen ungerne zurücknimmt. Warum man einen guten Grund hat, diese inneren Widerstände zu überwinden, begründet er gleich mit - wer von Anfang an von Ungewissheit ausgeht, wird sein Vorhaben resilienter organisieren, wodurch es nicht so schnell aus der Bahn geworfen werden kann.

Charles Lambdin: What Does 'Iterate' Mean?

Es ist ein Vergehen, dessen sich jeder berufliche Spezialist früher oder später schuldig macht - man benutzt bestimmte Fachbegriffe irgendwann ganz automatisch, ohne darüber nachzudenken wie sie eigentlich ursprünglich gemeint waren. Einer dieser Begriffe, der im Rahmen von agilem Arbeiten immer wieder genutzt wird, ist das Iterieren. Charles Lambdin hat sich die Mühe gemacht und ist dem Ursprung dieses Wortes nachgegangen, mit der überraschenden Erkenntnis, dass er bereits von den Verfassern des Manifests für agile Softwareentwicklung uneinheitlich benutzt worden ist. Vielleicht ist das auch einer der Gründe dafür, dass sich der alternative Begriff des Sprints durchgesetzt hat.

Michael Mankins, Patrick Litre: Transformations That Work

Ein Longread, aber einer, der die investierte Zeit lohnt. Michael Mankins und Patrick Litre haben zu dem Thema der Unternehmenstransformationen (agil, digital, etc) geforscht und kommen zu erstaunlichen Zahlen: die Hälfte der von ihnen befragten Unternehmen hat in den letzten fünf Jahren mehrere derartige Veränderungsprogramme durchlaufen, von denen führten aber nur zwölf Prozent wirkliche Veränderungen herbei. Interessant ist, was diese kleine Erfolgsgruppe gemeinsam hat - die Transformationsvorhaben waren keine zeitlich begrenzten Projekte sondern wurden langfristig und als Teil der täglichen Arbeit beschlossen und umgesetzt, sie waren nicht mit Sparprogrammen verbunden, die Organisation wurde nicht durch zu viele gleichzeitige Veränderungen gestresst, und es wurden ambitionierte Ziele gesetzt, den unteren Ebenen aber Freiheiten in der Ausgestaltung gelassen.

Maarten Dalmijn: Why OKRs Often Slowly Wither Away

Was Maarten Dalmijn hier über OKRs schreibt, trifft auch auf jede andere Form von agilem Arbeiten zu: damit es funktionieren kann sind bestimmte Rahmenbedingungen nötig. Sind diese noch nicht vorhanden, wird die neue Vorgehensweise nicht die gewünschten Ergebnisse bringen, sondern nach und nach wieder absterben. In diesem Problem liegt aber auch bereits die Lösung: wenn man die notwendigen Vorbedingungen einmal verstanden hat, kann man sich fragen, was man tun kann um sie herbeizuführen. Daran zu arbeiten sorgt dann oft für mehr Agilität als die Einführung von OKRs (oder Scrum, oder sonstwas) selbst.

Biplab Subedi: 5 Product Discovery Pitfalls Leading to Scrum Failures

Als letztes mal wieder eine kleine Liste. Biplab Subedi hat fünf häufige Product Discovery-Fehler zusammengetragen, wegen denen eine Scrum-Einführung schiefgehen kann. Hier sind sie:
1. Inadequate Time for the Problem Space
2. Discovery Solely for Estimation
3. Discovery Without Past Evidence
4. Discovery for a Quarter or More
5. Separation of Responsibilities in Discovery and Delivery
Mehr Detailsgibt es drüben bei ihm. Ich würde nur noch ergänzen, dass er sich Fälle bezieht, in denen Product Discovery tatsächlich nötig ist. Es gibt auch Fälle, in denen das nicht so ist.

Donnerstag, 25. April 2024

Agile Success Stories: das Warnsignal

Bild: Pexels / Andrea Piacquadio - Lizenz

Leider ist es so, dass viele "agile Methodiker" (Agile Coaches, Scrum Master, etc.) mit der Zeit eine eher negative Weltsicht entwickeln. Das ist auch menschlich verständlich, wer sich ständig mit dem Beseitigen von Impediments und dem Kampf gegen Change Fatigue und Konzern-Trolle beschäftigen muss, kann leicht in Frustration abrutschen. Um nicht selbst in dieses Muster verfallen, möchte ich dagegenhalten, indem ich ab und zu selbst erlebte "agile Erfolgsgeschichten" veröffentliche.


Die heutige kleine Geschichte habe ich in einem grossen Industriekonzern erlebt, der in mehreren Grossprojekten seine Anlagensteuerung und -überwachung digitalisierte und modernisierte. Diese Projekte waren zu Beginn alle nach Wasserfall durchgeführt worden, das in dem ich zeitweise war, war eines der ersten in denen agil gearbeitet wurde - unter misstrauischer Beobachtung übrigens, da es das verbreitete Vorurteil gab, dieser Arbeitsmodus wäre unzuverlässig und unsicher.


Wie man sich denken kann hakte es an einigen Stellen, unter anderem waren viele Stakeholder lange nicht bereit an den Sprint Reviews teilzunehmen, solange noch nicht alle Anforderungen vollständig umgesetzt waren.1 Erst eine Management-Intervention konnte das ändern, und so liessen sich ein Vierteljahr vor dem Go Live eines neuen Überwachungssystems endlich einige der zukünftigen Anwender vom Entwicklungsteam den bisher fertiggestellen Umfang vorführen.


Einer dieser zukünftigen Anwender war deren Teamleiter, ein Ingenieur namens Xin Mi.2 Mit strengem Blick verfolgte er die Vorführung, stellte mehrfach Nachfragen und machte sich jedesmal kopfschüttelnd Notizen, wenn er über ein Feature hörte, dass es erst in einem der kommenden Sprints umgesetzt werden würde. Irgendwann wurde er dann plötzlich hektisch und aufgeregt. Laut auf deutsch, englisch und chinesisch schimpfend stürmte er aus dem Raum, immer wieder "das geht so nicht" rufend.


Sein Problem: die Überwachungs-Ergebnisse des neuen Systems wurden in Echtzeit auf einem Bildschirm angezeigt. Was niemand dem Entwicklungsteam gesagt hatte war aber, dass der nur einer von über 20 auf einer ganzen Bildschirm-Wand sein würde. Was Xin Mi zurecht anmerkte - der davor sitzende so genannte Operator könnte eine auf nur diesem einem Bildschirm angezeigte Störungsmeldung leicht übersehen, und auch der Warnton war so leise, dass er in einem solchen Raum überhört werden könnte.


Etwas irritiert von dem Ausmass des Dramas überlegte das Team sich im folgenden Planning eine Lösung: der Warnton wurde lauter und durchdringender und um den Bildschirm wurde bei Störungen ein rot blinkender Rahmen angezeigt, um den Blick dorthin zu lenken. Die Umsetzung passte auch irgendwie noch in den nächsten Sprint hinein. Der immer noch aufgebrachte Xin Mi war zwar nicht bereit, während des Sprints darüber zu reden, zum nächsten Sprint Review kündigte er sich aber an.


Diesesmal tauchte er in Begleitung mehrerer Manager auf und verhielt sich wieder überraschend. Direkt zu Beginn verlangte er die Agenda umzustellen und mit der Störungsmeldung zu beginnen. Leicht irritiert gab das Entwicklungsteam diesem Wunsch nach und führte die Ergänzungen des letzten Sprints vor. Xin Mi, der gerade angesetzt hatte, den mitgebrachten Managern zu erklären, wie schlimm alles wäre, war völlig perplex. Dass sein Problem plötzlich gelöst war, war für ihn unbegreiflich.


Sein verdattertes Schweigen wurde von den Entwicklern falsch interpretiert und für Unzufriedenheit gehalten, also machten sie ein weiteres Angebot: Wenn Warnton oder Signalfarbe nicht passen würden könnte man auch das im nächsten Sprint noch ändern, jetzt, da die Funktionen da wären, wäre das kein Problem mehr. Für Xin Mi war das zu viel. Mit Tränen in den Augen stand er auf, bedankte sich überschwänglich und entschuldigte sich für sein bisher ablehnendes Verhalten.


Zum Hintergrund: in den bisherigen Wasserfallprojekten waren auch kleinste Änderungen der Anforderungen nur mit erheblichen bürokratischen Aufwänden machbar gewesen. Da neue Funktionen in den alten Anwendungen nur zweimal pro Jahr released wurden, waren diese Releases aufwändig und fehleranfällig, was dazu geführt hatte, dass zusätzliche Änderungen möglichst abzulehnen waren. Für jemanden der aus einer solchen Welt kommt, sind Auslieferungen alle zwei Wochen unvorstellbar.


Obwohl (oder vielleicht gerade weil) die hier beschriebene Anpassung nicht besonders gross war, war ihre schnelle und unkomplizierte Umsetzung für Xin Mi ein Erweckungserlebnis. Er wurde zum begeisterten Teilnehmer der Sprint Reviews und zum grössten Fürsprecher des agilen Arbeitens in seiner Abteilung und zog sogar zeitweise in das Büro des Entwicklungsteams, um so einen noch engeren und intensiveren Austausch haben zu können. Ein Stakeholder wie man ihn sich wünscht.


Geschichten wie seine (von denen ich einige erlebt habe) kann man sich immer wieder vor Augen führen, wenn andere Dinge nicht funktionieren wie gehofft. Sie sind nicht so imposant wie ein grosses Kulturwandel- oder Skalierungsprogramm, in Summe aber für die Akzeptanz und den Erfolg agiler Produktentwicklung viel, viel wichtiger. Und dieser eine Moment, in dem aus Wut Unglaube und aus Unglaube Begeisterung und Dankbarkeit wurde, ist einer, der im Gedächtnis hängen bleibt.



1Was natürlich den Zweck dieses Termins konterkarierte
2In Wirklichkeit hiess er anders, Xin Mi ist für diese kleine Geschichte sein Pseudonym

Montag, 22. April 2024

Aufklärung

Bild: Wikimedia Commons / Emil Doerstling - Public Domain

Man soll ja die Feste feiern wie sie fallen, daher an dieser Stelle herzliche Glückwünsche an Immanuel Kant zum 300. Geburtstag. Wie jeder andere Europäer und Amerikaner sind wir bewusst oder unbewusst von seinem Wirken geprägt, z.B. in unserer Arbeit in der agilen Produktentwicklung durch seine Erkenntnistheorie. Um den Rahmen nicht zu sprengen möchte ich mich aber heute auf etwas Kleineres beschränken: mein Kant-Lieblingszitat, gefunden in seinem Artikel Was ist Aufklärung?:


Wenn denn nun gefragt wird: leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? so ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalterder Aufklärung.
Immanuel Kant: Was ist Aufklärung?, S.9


Was Kant damit meint ist, dass die Benennung der Zeit, in der er lebte, als Aufklärung keineswegs bedeutete, dass objektives, rationales Denken sich allgemein durchgesetzt hatte und Unwissen und Falschannahmen der Vergangenheit angehörten. Stattdessen war es für ihn lediglich so, dass den Menschen die Möglichkeit eröffnet wurde, sich Objektivität und Rationalität zu erarbeiten. Dieser dauerhafte Erarbeitungs-Prozess war für ihn Aufklärung.


Wer möchte kann hierin Parallelen zu der Arbeit der heutigen (agilen) Unternehmensberater, Agile Coaches und Scrum Master erkennen. Auch am Anfang unserer Arbeit steht in der Regel ein Unwissen über Systeme, Befindlichkeiten und Dynamiken, auch wir versuchen durch Datengetriebenheit und Empirie Licht in dieses Dunkel zu bringen,1 und auch uns ist (hoffentlich) bewusst, dass diese Aufgabe kaum durch uns final abschliessbar ist.


Diese Erkenntnis kollidiert natürlich immer wieder mit dem verständlichen Wunsch unserer beruflichen Umgebung, irgendwann mit den Veränderungen fertig zu sein, um "wieder in Ruhe arbeiten zu können". Zu vermitteln, dass das praktisch nicht möglich ist, und dass die Entdeckung und Untersuchung immer neuer Probleme und die Validierung immer neuer Lösungen von Dauer sein müssen, ist einer der anspruchsvollsten Teile unseres Berufs.


Ob die Berufung auf Kant bei der Vermittlung dieser Erkenntnis von Nutzen ist, sei dahingestellt, je nach Kontext wird die Antwort eine andere sein. Für jeden, der sich mit Geistes- oder Philosophiegeschichte beschäftigt hat, mag es aber ein schöner Gedanke sein, dass wir in gewisser Weise das weiterführen, was Kant und seine Zeitgenossen begonnen haben. Und dass seine Gedanken in uns weiterleben ist sicher auch ein passendes Geburtstagsgeschenk für ihn.



1Licht in das Dunkel bringen ist auch die ursprüngliche Bedeutung des Wortes "Aufklärung"

Donnerstag, 18. April 2024

Coding Will Never Be The Same Again

Wenn die Rede darauf kommt, wie sehr der Einsatz von KI die Softwareentwicklung beschleunigen und verbessern kann, stösst die Vorstellungskraft vieler Menschen an ihre Grenzen. Ryan Salva ist so freundlich und führt live auf der Konferenzbühne der YOW-Konferenz 2023 anhand des GitHub Copilot vor, wie man sich das vorstellen kann. Beeindruckend.



Die spannenden Fragen, die diese Vorführung aufwirft: wenn über Retrieval Augmented Generation Code von anderen Entwicklern bezogen oder dieser auf Basis von Reinforced Learning from Human Feedback automatisiert modifiziert wird, wie kann verhindert werden, dass das Model versehentlich durch schlechten Code kontaminiert wird? Wie sicher sind die hier nur kurz zu sehenden Absicherungen gegen Bugs, Urheberrechtsverletzungen und anstössige Inhalte wirklich? Und wie kann verhindert werden, dass die Einfachheit der Codegenerierung dazu führt, dass im Überschwang der Gefühle so viel erzeugt wird, dass die Codebase unnötig aufgebläht wird? Die Antworten darauf werden wesentlich beeinflussen, ob mit KI wirklich bessere, schnellere Ergebnisse möglich werden, oder ob die Aufwände einfach nur an andere Stellen verlagert werden. Hoffen wir auf das erste.

Montag, 15. April 2024

KI und Agilität (Probleme und Potentiale)

"Die Zukunft hat bereits begonnen, alles ist jetzt anders und unsere Art zu arbeiten wird sich fundamental ändern." Ungefähr das können wir uns regelmässig anhören, seit 2022 die KI-Anwendungen auf den Massenmarkt gekommen sind.1 Auch für die agile Produktentwicklung wurden und werden derartige Vorhersagen gemacht, und nachdem mittlerweile einige Zeit verstrichen ist, können wir ein erstes Zwischenfazit ziehen: was ist an neuen Möglichkeiten dazugekommen und wie sinnvoll sind die?


Meine (sehr subjektive) Übersicht ist in sechs Kategorien gegliedert: Gefährlicher Blödsinn, Quellenfreie Blaupausen und Banalitäten, Kleine Produktivitäts-Hacks, Grosse Macht und grosse Verantwortung, Riesiges Potential, aber nur schwer umsetzbar und Jenseits der Vorstellungskraft. Man sieht, es ist von allem etwas dabei, ungefähr angeordnet entlang einer Skala zwischen Unsinn und Grossartig. An der können wir uns bei der Betrachtung entlanghangeln.


Gefährlicher Blödsinn

Fangen wir mit dem grössten Quatsch an, dem Scrum Master-Chatbot, der Meetings moderieren oder bei der Formulierung von User Stories helfen kann. Diese Programme sind nicht nur deshalb problematisch, weil sie nicht in der Lage sind, Kontext, Emotionen und nonverbale Signale zu erkennen, sie setzen auf vollständig falschen Prämissen auf, nämlich auf denen, dass der Scrum Master alle Meetings moderiert oder dass alle Anforderungen User Stories sein müssen. Sie richten mehr Schaden als Nutzen an.


Quellenfreie Blaupausen und Banalitäten

"Wie strukturiert man ein Refinement Meeting?" oder "Wie ist ein Kanban-Board aufgebaut?" Derartige Fragen kann man sich von einem Chatbot beantworten lassen. Das ist auch schön und gut, allerdings bewegen sich derartige Fragen auf dem grundlegendsten Einsteiger-Level, wo sie mit dem Risiko verbunden sind, unreflektiert als (im Zweifel unpassende) Blaupause verwandt zu werden. Dazu kommt noch ein weiterer Punkt: ohne Quellenangabe ist nicht klar, wie seriös die ursprüngliche Quelle ist.


Kleine Produktivitäts-Hacks

Ab hier fängt es an, sinnvoll zu werden. Ein KI-Chatbot kann ein Meeting aufzeichnen und zusammenfassen, er kann erste Entwürfe für Präsentationen erstellen und Visualisierungen anfertigen. Unabhängig davon, dass das nur wenig mit Agilität im eigentlichen Sinn zu tun hat, kann es natürlich Zeit sparen. Zumnindest im Moment aber nur im geringen Ausmass, da die Ergebnisse noch so schlecht sind, dass man sie manuell überarbeiten muss.


Grosse Macht und grosse Verantwortung

Auf diesem Punkt ruhen zur Zeit die grössten Hoffnungen: einer KI wird eine Anforderung gegeben und sie erzeugt in Sekunden den Quellcode, alternativ kann sie menschengeschriebenen Code reviewen oder bereinigen. Das kann den Inspect & Adapt-Prozess bemerkenswert beschleunigen, zu beachten ist aber, dass eine KI nur so gut sein kann wie der Durchschnitt ihres Trainingsmaterials. Es besteht daher das Risiko, dass sie unzeitgemässe oder unsichere Software erzeugt.2 Das sollte sorgfältig überprüft werden.


Riesiges Potential, aber nur schwer umsetzbar

Stellen wir uns eine KI vor, der man Aussagen, Fragen und Feedback von tausenden Mitarbeitern schicken kann und die daraus die wesentlichen Züge der Unternehmenskultur extrahiert. Oder eine andere, die aus internen Entwicklungsmetriken bisher unentdeckte Zusammenhänge ablesen kann. Das könnte dabei helfen, Change- und Optimierungsprogramme um ein Vielfaches wirksamer zu machen. Das Problem: kaum ein Unternehmen hat die dafür nötigen Daten in ausreichender Qualität vorliegen.3


Jenseits der Vorstellungskraft

Man muss sich eines bewusst machen: die technische Entwicklung hat gerade erst angefangen. Genau wie bei den ersten Smartphones noch nicht absehbar war, dass sie einmal als Fahrkarte oder Fernbedienung benutzt werden könnten, wird sich bei den KI-Anwendungen ebenfalls noch Einiges ergeben, was jetzt noch nicht absehbar ist. Aber das bedeutet natürlich auch, dass es hier noch nicht besprochen und bewertet werden kann. Das dauert noch.


Zusammengefasst kann man sagen, dass zwar grosse Potentiale erkennbar sind, die wirkliche Revolution der (agilen) Arbeitswelt aber noch ausgeblieben ist. Zum Teil liegt das daran, dass der Einsatz von KI zum Teil in nicht zielführenden Zusammenhängen stattfindet, zum anderen daran, dass die für einen wirklich disruptiven Einsatz notwendigen Voraussetzungen oder Sicherheitsvorkehrungen noch fehlen. Aber das soll nicht heissen, dass es auch so bleiben muss.


Ein häufiges Muster bei technologischen Innovationen ist, dass die kurzfristigen Effekte überschätzt, die langfristigen aber unterschätzt werden. Sollte das auch hier der Fall sein, wird sich das erst in einigen Jahren bemerkbar machen. Bis dahin sollte man zwar technologie-offen bleiben, die Erwartungen an umwälzende Veränderungen aber auf ein realistisches Mass herunterfahren.



1Da der Begriff unscharf ist: gemeint sind hier vor allem Large Language Models.
2Aus diesem Grund sind derartige Anwendungen in vielen Unternehmen zur Zeit intern noch nicht zugelassen.
3Nein, wirklich nicht. Die Daten in Tracking-Tools wie Jira oder Polarion sind in der Regel unvollständig und nur in den seltensten Fällen aktuell gehalten, und die Fragen in Feedback-Tools sind fast immer durch vorgegebene Kategorien, Längenbegrenzungen oder vorgegebene Antwortoptionen suggestiv gestaltet.

Donnerstag, 11. April 2024

Ausbalancierte Product Ownership

Bild: Pexels / Ivan Rebic - Lizenz

Eine der vermutlich ältesten Debatten im Umfeld von Scrum und anderen agilen Ansätzen dreht sich um die Frage, wie gross der Entscheidungsspielraum eines Product Owners (oder vergleichbarer Projektmanagement-Rollen) ist. Darf er wirklich alles entscheiden, bis hin zur möglichen Einstellung seines Produkts, oder ist er lediglich dafür zuständig die Wünsche seiner Stakeholder zu sammeln und zu einem in sich stimmigen Ganzen zusammenzufügen?


Die Antwort ist natürlich auch hier "kommt darauf an", allerdings mit einer gewissen Ausdifferenzierung. Statt einem dieser beiden Extremtypen zu entsprechen, befinden sich die meisten Product Owner irgendwo auf einer dazwischenliegenden Skala, und auch das nicht stationär sondern je nach Kontext mal hier und mal dort. Das ist auch bereits mehrfach beschrieben worden, vielleicht am eingängigsten vom Produktmanagement-Experten Roman Pichler.


In seinem Text Be a Balanced Product Leader, Not a Feature Broker or Product Dictator gibt er den beiden Extremtypen Namen, nämlich genau die im Titel genannten: der Feature Broker hat kaum Gestaltungswilllen oder Gestaltungskompetenz und beschränkt sich darauf, zwischen den Stakeholdern so lange zu vermitteln, bis eine gemeinsame Priorisierung aller Anforderungen entstanden ist. Der Product Dictator hat Gestaltungswilllen und Gestaltungskompetenz und entscheidet alles komplett alleine.


Warum die Extreme schädlich sind, dürfte offensichtlich sein. Das "Produkt" eines Feature Brokers wird schnell zu einem inkonsistenten Sammelsurium von Kompromisslösungen werden, das eines Product Dictators wird zwar in sich stimmig sein, im Zweifel aber vor allem ihm selbst gefallen und nicht notwendigerweise auch den Kunden oder Anwendern. Der "Ausbalancierte Product Owner" befindet sich in der Mittel und hat Züge von beiden, hält sie aber im vernünftigen Rahmen.


Was Pichler ergänzend anmerkt ist, dass jeder Product Owner sich des Risikos bewusst sein sollte, sich unbewusst zu sehr in eine der beiden Richtungen zu bewegen. Vor allem wenn das in kleinen, für sich genommen unscheinbaren Schritten geschieht, kann man das irrige Gefühl haben, sich nicht aus der Mitte wegbewegt zu haben, während die Umgebung einen mittlerweile als einen der beiden Extremtypen wahrnimmt (und unter den damit verbundenen Dysfunktionen leidet).


Es ist daher ratsam, von Zeit zu Zeit zu überprüfen, wo auf der Skala zwischen Feature Broker und Product Dictator man sich befindet. Ob man das durch Selbstreflektion, Überprüfung festgelegter Kriterien oder Feedback von anderen macht kann von Fall zu Fall unterschiedlich sein, wichtig ist aber, dass es überhaupt stattfindet. Nur so kann man sicherstellen, in einer ausbalancierten Rollenausprägung zu bleiben (oder in sie zurückzukehren).

Montag, 8. April 2024

Macht der Scrum Master sich selbst überflüssig?

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Zu den Mythen, die sich mit der Zeit um das Scrum-Framework gebildet haben, gehört der, dass der Scrum Master sich mit der Zeit selber überflüssig macht und irgendwann nicht mehr benötigt wird. Auf den ersten Blick erscheint das auch wie eine naheliegende Idee, bei näherer Betrachtung hat sie aber durchaus problematische Aspekte. Es lohnt sich, näher zu betrachten wo diese Aussage herkommt, wie sie gemeint ist und was für Folgen sie haben kann.


Um mit dem Einfachsten zu beginnen: in keinem der offiziellen Scrum-Dokumente befindet sich eine auch nur entfernt ähnliche Aussage. Weder in der aktuellen Version des Scrum Guide, noch in einer der älteren Versionen, noch in einem der Konferenz-Papers mit denen Ken Schwaber und Jeff Sutherland ihren Ansatz am Anfang bekannt gemacht haben ist die Rede davon, dass der Scrum Master irgendwann nicht mehr gebraucht werden könnte (wer nachlesen will - hier sind alle dieser Dokumente verlinkt).


Der Urheber ist also irgendjemand, der nicht an der Entwicklung von Scrum beteiligt war, überspitzt könnte man sagen: ein Mensch mit einer starken Privat-Meinung. Wer genau das gewesen ist, lässt sich wahrscheinlich nicht mehr rekonstruieren, man kann aber zumindest sagen, wer diese Idee vermutlich bekannt gemacht und popularisiert hat - Geoff Watts, ein bekannter englischer Scrum Master, in seinem 2013 erschienen Buch Scrum Mastery: From Good To Great Servant-Leadership.


My second piece of advice is to go into the role of ScrumMaster with the intention of making the role of ScrumMaster for this team unnecessary. Create such a high-performing, self-organising team, with such a good relationship with the product owner, with such a keen understanding of the Scrum framework (and the principles behind the framework) that they don’t need any facilitation (of either process or people) and have no impediments left to remove. In other words, be so great that they don’t need you anymore. I’m not saying this will definitely happen, but the more you aim for it, the more quickly your team will develop and the better your team will perform.
Geoff Watts: Scrum Mastery (2.Auflage), S.27


Wie man aus diesem Abschnitt herauslesen kann, beschreibt Watts ein Idealbild, dessen Erreichung eher unwahrscheinlich ist. Das tatsächliche Ziel ist dabei weniger die Selbstabschaffung sondern die konstante Arbeit daran, das Scrum Team selbstorganisiert zu machen und ihm diese Selbstorganisation zu erhalten. Indirekt wird gleichzeitig vor dem häufigen Antipattern gewarnt, bestimmte Tätigkeiten in der Scrum Master-Rolle zu monopolisieren (was andere negative Folgen mit sich bringen würde).


Dass das Idealbild eines Scrum Teams ohne Scrum Master nur schwer zu erreichen ist, hat übrigens handfeste Gründe: Vieles von dem, was in dieser Rolle gemacht wird, erfordert ein Heraustreten aus den Alltagsabläufen und eine Konzentration auf langfristige Ziele. Da gerade in Scrum mit seinen kurzen Sprints aber ein permanenter kurzfristiger Lieferdruck herrscht, wäre eine Verdrängung der Langfrist- durch die Kurzfrist-Ziele hochwahrscheinlich, wenn sie von den selben Personen verantwortet werden (kurzfristige Verpflichtungen fühlen sich immer dringender an als langfristige).


Gleichzeitig ist es eine wichtige Eigenschaft des Scrum Masters, überparteilich zu sein, um bei Konflikten (z.B. zwischen den Entwicklern oder zwischen Product Owner und Stakeholdern) vermitteln zu können.1 Ohne ihn fällt diese Vermittlerrolle weg, und wird aufgrund des fehlenden Kontextwissens nur eingeschränkt durch einen externen Moderator oder Mediator ersetzt werden können. Schlimmstenfalls kommt es nur zu Schein-Konsensen, oder solchen die nicht lange halten.


Trotz dieser Faktoren wäre das Setzen des Scrum Master-Selbstabschaffungs-Ziels zunächst unproblematisch, da es aufgrund seiner Langfristigkeit kaum ins Gewicht fällt, wenn es auf absehbare Zeit nicht erreicht wird. Zu einem Problem wird es aber, wenn dieses Ziel in die Einsatz- und Budgetplanungen integriert wird. Und vor allem grosse Firmen versuchen genau das immer wieder, was verschiedene problematische Folgen mit sich bringt.


Zum einen werden in vielen Fällen keine internen Scrum Master-Positionen geschaffen, da man die ja "nur vorübergehend braucht". Das schwächt diese Rolle, es sorgt für eine hohe Fluktuation (aus Sorge vor Scheinselbstständigkeit sind externe Besetzungen meistens befristet) und macht sie zu einem primären Ziel von Sparprogrammen, da der Abbau von externem Personal einer der einfachsten und schnellsten Wege ist, um Kosten (scheinbar) zu senken.


Zum anderen führt auch bei internen Scrum Mastern die Idee, dass diese irgendwann überflüssig werden, zu "Optimierungsversuchen". Eine immer wieder anzutreffende Variante ist die Deckelung der Zeit, in der ein Team Anspruch auf diese Rolle hat (z.B. auf ein Jahr), eine andere besteht daraus, dass sie ab dem Überschreiten bestimmter Zeiträume nur noch in Teilzeit zur Verfügung steht, um in der restlichen Zeit ein weiteres Team übernehmen zu können (und irgendwann zwei weitere, und drei, etc.).


Beide Varianten führen dazu, dass sowohl die Teams als auch die Scrum Master unter einen permanenten Rechtfertigungsdruck gesetzt werden und immer wieder erklären müssen, warum sie das Selbstorganisations-Ziel noch immer nicht erreicht haben. Das zieht kontinuierlich Zeit und Energie von den wichtigen Aufgaben ab (und was passiert, wenn das Ziel, ohne Scrum Master klarzukommen, mit einem Gehaltsbestandteil verbunden wird - man kann es sich denken. Nichts Gutes jedenfalls).


Zusammengefasst: das Ziel, dass der Scrum Master sich selbst überflüssig macht, ist kein offizieller Teil von Scrum, und es ist nie ein Teil davon gewesen. Dort wo es propagiert wird, wird es als ein kaum zu erreichender Idealzustand verstanden, das eigentliche Ziel ist ein ganz anderes. Und dort wo es missverstanden wird oder den falschen Menschen in die Hände fällt, kann es Fehler im Systemdesign, Ressourcenverschwendung und ständigen Stress zur Folge haben.


Das alles ist wirklich schade, da die Grundidee eigentlich gut und erstrebenswert klingt. Aufgrund der damit verbundenen Risiken sollte man es sich allerdings mehrfach überlegen, bevor man sie in der eigenen Firma äussert. Im Zweifel startet man dadurch eine Dynamik, die sich nur schwer wieder einfangen lässt und ohne Notwendigkeit Konflikte verursacht.



1Gemeint ist Überparteilichkeit in Konflikten, die nicht seinen aus der Rolle ableitbaren Auftrag betreffen. Ist der betroffen, ist die Situation nochmal eine andere.

Donnerstag, 4. April 2024

Sturgeon's Law

Wenn wir über Sturgeon's Law (Sturgeons Gesetz) reden, müssen wir damit beginnen, dass es häufig verwechselt wird, und zwar mit einer anderen Beobachtung, die ebenfalls auf den amerikanischen Autor Theodore Sturgeon zurückgeht - mit Sturgeon's Revelation (Sturgeons Offenbarung). Allerdings bauen die beiden aufeinander auf, um das Gesetz zu verstehen muss man also die Offenbarung kennen. Beginnen wir also mit ihr. Sie lautet in aller Schlichtheit:


Ninety percent of everything is crap (Neunzig Prozent von allem ist Mist)
Theodore Sturgeon, Sturgeon's Revelation


Dieses Statement benötigt Kontext. Sturgeon war ein früher Fantasy- und Science Fiction-Autor und lebte in einer Zeit, als diese Genres noch neu waren und von Kritikern als künstlerisch wenig anspruchsvoll betrachtet wurden. Von ihnen wurden zuerst alle Science Fiction und Fantasy als "zu Neunzig Prozent Mist" bezeichnet, was Sturgeon dazu brachte, sie mit der Qualität der restlichen Literatur zu vergleichen. Dabei entstand seine Erkenntnis, dass auch bei der maximal zehn Prozent wirklich gut waren.1


Angesichts dieser Vergleichbarkeit stellte sich für Sturgeon eine Folgefrage: warum war das Ansehen der neuen Genres so viel schlechter? Seine Antwort (und gewissermassen seine zweite Erkenntnis) war, dass sie nicht mit dem Durchschnitt der bisherigen Literatur verglichen wurden, sondern mit den Klassikern und Bestsellern. Diesen Vergleich konnten sie natürlich nur verlieren. Sturgeon's Law (von dem es verschiedene Varianten gibt) sollte derartig unfaire Vergleiche verhindern:


Nothing is always absolutely so. [...] The best science fiction is as good as the best fiction in any field (Nichts kann undifferenziert beurteilt werden [...] Betrachtet man nur die besten Science Fiction-Werke, sind sie ähnlich gut wie die besten Werken anderer Stilrichtungen)
Theodore Sturgeon, Sturgeons Law


So weit, so naheliegend, aber was haben diese eher literaturwissenschaftlichen Überlegungen mit der Welt der Prozesse und Methoden zu tun, um die es auf dieser Seite schwerpunktmässig geht? Mehr als man denkt, denn Sturgeon's Law lässt sich hierher übertragen. Auch neue Methoden werden ständig entwickelt (z.B. POPCORN oder FAST) und oft auf die erwähnte ungerechte Art mit den bereits existierenden, fertig ausentwickelten Ansätzen verglichen. Sturgeon würde auch dem widersprechen.


Ein Vergleich neuer und bestehender Methoden macht nur Sinn, wenn die Vergleichsobjekte der beiden Gruppen basierend auf ähnlichen Kriterien ausgewählt wurden
Sinngemässe Übertragung von Sturgeons Law


Dementsprechend können bewusst rudimentäre neue Ansätze, wie die gerade erwähnten, nur mit den vergleichbar minimalistischen unter den bewährten Vorgehensweisen verglichen werden, z.B. den sieben Mudas. Umgekehrt wären die passenden Vergleichswerte für die klassischen, schwergewichtigen Projektmanagement-Methodiken von PMI und Prince2 nicht einfache Frameworks wie Scrum oder Extreme Programming, sondern eher die "agilen Schwergewichte" wie SAFe oder Disciplined Agile.2


Natürlich verhindert eine derartige Zuordnung von äquivalenten Vergleichsobjekten viele der aus starken Unterschieden ableitbaren Pauschalurteile, wie z.B. "das ist doch viel zu umfangreich" oder "da wird doch ganz Vieles gar nicht bedacht". Genau das ist aber der Vorteil, den die Anwendung von Sturgeons Law bringt - man muss jetzt ähnlich grosse, ähnlich weit ausentwickelte Ansätze einander gegenüberstellen. Ihre Unterschiede (bzw. deren Fehlen) werden dadurch deutlich besser erkennbar.


PS: Unabhängig von Sturgeons Erkenntnissen und Handlungsempfehlungen kann man natürlich Vorlieben für schwer- oder leichtgewichtige Frameworks haben, das ist jedem unbenommen. Diese untereinander zu vergleichen ist aber häufig ein Vergleich von Äpfeln mit Birnen, und daher meistens nur wenig zielführend.



1Natürlich ist diese Zahl hochgradig subjektiv, aber dass ein Großteil aller erschienenen Bücher nur kleine Auflagen hat, liegt auch an der Qualität
2Und im Vergleich zwischen den agilen Frameworks müsste man z.B. FAST an dem ähnlich grossen Scrum messen, statt an dem deutlich grösseren SAFe

Montag, 1. April 2024

Kommentierte Links (CXII)

Grafik: Pixabay / Geralt - Lizenz
Das Internet ist voll von Menschen, die interessante, tiefgründige oder aus anderen Gründen lesenswerte Artikel schreiben. Viele dieser Texte landen bei mir, wo sie als „Food for Thought“ dazu beitragen, dass auch mir die Themen nicht ausgehen. Wie am Ende jedes Monats gibt es auch diesesmal wieder eine kommentierte Übersicht über die erwähnenswertesten.

John Cutler: How to Learn and Practice Product Management in a Feature Factory

Zu den am weitesten verbreiteten Antipattern zur agilen (oder einfach nutzerorientierten) Produktentwicklung gehören die so genannten Feature Factories, in denen eine möglichst schnelle Implementierung neuer Funktionen wichtiger ist als die Überprüfung, ob sie auch vom Markt nachgefragt werden. Wie John Cutler mit voller Berechtigung anmerkt, kann man aber selbst in einer solchen Umgebung daran arbeiten, bessere Praktiken zu entwickeln und anzuwenden (er nennt exemplarisch 10, es gibt sicher noch weitere). Bestenfalls verbessert man dadurch das Unternehmen in dem man ist, schlimmstenfalls lernt man, was man nach einem Wechsel im nächsten machen kann.

Robert Ruzitschka: “We” instead of “I” - The team as the smallest unit of delivery

Von den Antipattern zu einer good Practice: Robert Ruzitschka betont richtigerweise, dass die Wertschöpfung in der Anwendungsentwicklung vor allem auf Teamebene staatfindet, und das besonders gut in solchen, darauf verzichten, einzelnen, besonders erfahrenen Mitgliedern eine herausgehobene Rolle zuzugestehen. Nicht etwa, weil das im Einzelfall nicht zielführend wäre (im Gegenteil, wer erfahrener ist, erledigt Aufgaben oft schneller und besser), sondern wegen der Folgen für das Gesamtsystem. Selbst wenn sich es nicht wollen, werden solche "Superstar-Entwickler" zu Flaschenhälsen und Risiko-Faktoren (→ Bus-Faktor). Teams mit breiter Wissens- und Verantwortungsverteilung sind deutlich resilienter.

Dmitry Bagdasaryan: Cultural Intelligence in Hi-Tech Leadership - Navigating Global Business Dynamics

In meinem Psychologiestudium habe ich mich zwar auch mit dem Thema der Intelligenz befasst, die hier von Dmitry Bagdasaryan beschriebene Unterart der Kulturellen Intelligenz kannte ich aber noch nicht. Verkürz gesagt verbirgt sich hinter diesem Begriff die Fähigkeit eines Menschen, sich in kulturell divers aufgestellten Situationen und Umfeldern aufmerksam, verständnisvoll und anpassungsfähig zu verhalten. Vor dem Hintergrund, dass auf kulturellen Missverständnissen und Konflikten beruhende Verzögerungen und Fehlentwicklungen teuer sein können, ist das eine Eigenschaft, an der zu arbeiten sich lohnt.

Randy Silver: The Secret Weapon of Great Leaders: Effective Delegation

Vor einiger Zeit habe ich über die Autonomie-Falle geschrieben, in die jeder zu tappen droht, der Entscheidungen an Menschen delegiert, die dafür nicht vorbereitet sind. Randy Silver hat darüber nachgedacht, was das Ergebnis einer solchen Vorbereitung sein sollte, und kommt dabei auf die folgenden drei Punkte:
1. Den Menschen muss klar sein, wie Entscheidungsprozesse funktionieren
2. Den Menschen muss klar sein, woran sie richtige Entscheidungen erkennen
3. Den Menschen muss klar sein, warum sie die Richtigen sind, um diese Entscheidungen zu treffen
Klingt total selbstverständlich, ist aber leider nicht immer gegeben.

Tanner Wortham: Guessing Is Not a Viable Strategy

Da hat Tanner Wortham völlig recht, strategische Entscheidungen sollte man nicht auf Vermutungen (oder in seinen Worten auf Raten) aufbauen. In einer Umgebung, in der aufgrund ständiger Veränderungen auch Erfahrungswerte kaum möglich sind, sind auch diese keine Option - was bleibt also? Die Antwort: ein vorsichtiges aber entschlossenes Vorantasten durch kontrollierte Experimente. Woran man erkennt, dass man ein solches vor sich hat, beschreibt er anhand von sechs nützlichen Lackmustests.

Donnerstag, 28. März 2024

Entgleiste Meeting-Moderation


Das hier ist eines der Videos, bei denen der alte Spruch stimmt: das Lachen bleibt einem im Hals stecken. Entdeckt habe ich es in den Kommentaren eines Linkedin-Posts, in dem die These aufgestellt wurde, dass Retrospektiven bestenfalls sinnlose Zeitverschwendung sind und schlimmstenfalls eine an Mobbing grenzende Zwangs-Infantilisierung erwachsener Menschen. Das Bittere daran ist, dass es viele Teams gibt, in denen genau das der Fall ist. Das Video ist verstörend nah an einer häufigen Realität.


Anzutreffen sind derartige Katastrophen-Termine immer dann, wenn der Scrum Master, Agile Coach oder Design Thinking-Facilitator den anderen gegen ihren Willen "spielerische Elemente" aufzwingt, unter denen sie eher leiden als von ihnen in irgendeiner Form zu profitieren. Alleine ich habe über die Jahre eine mittlere zweistellige Anzahl derartig entgleister Meeting-Moderationen erlebt, einige davon noch verheerender als hier zu sehen (!) - und alle aus bestem Willen heraus so durchgeführt (was das Ganze um so tragischer macht).


Das soll natürlich nicht heissen, dass Ice Breaker und Gamification per se schlecht wären, viele Teams lieben sie. Genau darin steckt aber ein entscheidender Punkt: wer solche Elemente als Moderator nutzen möchte, sollte genau darauf achten, ob die Teilnehmer sie wollen oder sich davon zumindest nicht gestört fühlen - sowohl grundsätzlich als auch im jeweiligen Einzelfall. Immer dann, wenn das nicht der Fall ist, kann man nur dringend raten, damit sofort aufzuhören. Wenn nicht, wird man das Gegenteil dessen erreichen, was eigentlich beabsichtigt ist.

Dienstag, 26. März 2024

Wie und wann man in Scrum Stakeholder einbinden kann

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Auf die Frage nach den Rollen, bzw. Verantwortlichkeiten, in Scrum werden die meisten Kenner dieses Frameworks ohne zu Zögern mit den Entwicklern, dem Product Owner und dem Scrum Master antworten. Das ist auch grundsätzlich richtig, lässt aber eine vierte aus, die im Scrum Guide (Version von 2020) immerhin dreizehn mal an verschiedenen Stellen genannt wird: die der Stakeholder, also der (team-externen) Interessenvertreter. Wie kommt es, dass diese Gruppe so häufig übergangen wird?


Eine Antwort darauf ist, dass die Stakeholdern im Scrum (scheinbar) nicht am Sprint beteiligt sind. Bei oberflächlicher Betrachtung kann es so erscheinen, als würden sie nur als "Publikum" im Sprint Review erscheinen. Bei näherer Betrachtung können sie aber durchaus stärker eingebunden werden. Zum einen aufgrund der Vorgaben des Scrum Guide selbst, zum anderen durch verschiedene Praktiken, mit denen die bewusst offen gelassenen Lücken von Scrum gefüllt werden können.


Die Stakeholder im Sprint Planning

Um mit einer kleinen Überraschung zu starten - die mögliche Mitwirkung der Stakeholder im Planning steht im Scrum Guide. The Scrum Team may also invite other people to attend Sprint Planning to provide advice. heisst es dort. Eine Möglichkeit, von der viel zu selten Gebrauch gemacht wird.


Die Stakeholder im Daily Scrum

Es ist kein offizieller Teil von Scrum, aber eine häufige Praxis: Daily Scrum Meetings finden öffentlich statt, so dass jeder, der ein Interesse hat, als Zuschauer teilnehmen kann. Häufig reicht das bereits als ein Kommunikationsinstrument aus, ggf. ergeben sich daraus auch Themen für Folgegespräche.


Die Stakeholder im Backlog Refinement

In Scrum ist das Refinement nicht notwendigerweise ein Meeting sondern eine Tätigkeit, in deren Rahmen Backlog-Einträge erstellt, präzisiert und priorisiert werden. Analog zum Sprint Planning können dabei Experten und Kundenvertreter bei Bedarf einbezogen werden.


Die Stakeholder in der Sprint Review-Vorbereitung

Nirgendwo steht, dass die Stakeholder erst im Review-Meeting die Sprint-Ergebnisse sehen dürfen. Oft gilt sogar ein je früher, desto besser, da dadurch mehr Zeit bleibt die Features auszuprobieren, Feedback vorzubereiten und, falls die Zeit das zulässt, sogar noch Änderungswünsche zu platzieren.1


Die Stakeholder im Sprint Review

Nochmal zum Scrum Guide. Ihm zufolge wird den Stakeholdern im Review nicht nur das Ergebnis gezeigt und sie geben nicht nur Feedback, sie erarbeiten darüber hinaus zusammen mit dem Scrum Team nächste Schritte und passen gemeinsam die Planung an. Es ist eine aktive, mitentscheidende Rolle.2


Die Stakeholder in der Sprint Retrospektive

Der seltenste Beteiligungsfall: Retrospektiven sind im Normalfall strikt Scrum Team-intern, um dort vertraulich und in psychologischer Sicherheit auch an schwierigen Themen arbeiten zu können. Aber wenn es dabei um die Zusammenarbeit mit Anderen geht, können die auch gezielt eingeladen werden.


Spezielle Stakeholder-Termine

Über die offiziellen Scrum-Events hinaus kann es Sinn machen, weitere Stakeholder-Termine einzurichten. Welche das sind kann je nach Bedarf unterschiedlich sein, es sollten nur nicht zu viele werden. Und übrigens: auch das Scrum of Scrums ist bei näherer Betrachtung ein Stakeholder-Meeting.


Noch einmal zusammengefasst: wer in den Stakeholdern nur das Publikum für die Sprint Reviews sieht, wird nicht das volle Potential von Scrum nutzen. Sie können (und sollen) an verschiedenen Stellen ihre Expertise einbringen und in diesem Rahmen aktiv mit den drei anderen Rollen, bzw. Verantwortlichkeiten, zusammenarbeiten. Und dort wo das noch nicht passiert sollte der Scrum Master tätig werden. Zu dessen Aufgaben gehört nämlich laut Scrum Guide removing barriers between stakeholders and Scrum Teams.



1Das geht natürlich nur, wenn nicht erst alles am letzten Tag fertig wird. Nochmal eine eigene Geschichte
2Um zu zeigen wie weit das gehen kann: vor der Verschlankung von 2020 stand im Scrum Guide sogar, dass im Review Budgets neu festgelegt werden können

Donnerstag, 21. März 2024

Vollständige Tätigkeit

Bild: Pexels / Yan Krukau - Lizenz

Ein Hoch auf die Wissenschaft! Diesesmal sind es Arbeits- und Organisationspsychologen der Universität Halle, die eine verbreitete Annahme überprüft haben, so dass man diese jetzt auf der Basis valider Empirie vertreten kann. Die Rede ist von End-to-End-Verantwortung, oder "Vollständiger Tätigkeit", wie sie hier genannt wird, und von den Auswirkungen, die diese Art von ganzheitlicher Beschäftigung mit einem Thema auf Menschen haben kann.


Das Konstrukt der „vollständigen Tätigkeit“ als Ziel guter Arbeitsgestaltung heisst der Forschungsbericht, der auf Basis von 800 Betrachtungen und Interviews entstanden ist, durchgeführt mit Menschen unterschiedlichster Berufsgruppen. In dieser Forschung wurde überprüft, welche so genannten Beanspruchungsfolgen (vereinfacht gesagt Auswirkungen auf die Psyche) unterschiedliche Ausmasse der Verantwortung über die eigene Tätigkeit haben (siehe auch hier).


Ein erstes Ergebnis ist, dass "unvollständige Tätigkeiten", die jeweils nur einen Teil einer Wertschöpfung umfassen, eher zu negativen als zu positiven Beanspruchungsfolgen führen. Da in diesem Vorgehen zahlreiche Abhängigkeiten zu anderen Gruppen bestehen, empfand die Mehrheit der untersuchten Personen ständigen Zeitdruck, der Versuch allen Abhängigkeiten gerecht zu werden führte ausserdem zu ständigen Kontextwechseln und Unterbrechungen. Insgesamt entstanden Ineffektivität und Ineffizienz.


Umgekehrt führten "vollständige Tätigkeiten", die grosse Teil der Wertschöpfung umfassen, eher zu positiven als zu negativen Beanspruchungsfolgen. Das in diesem Vorgehen mögliche eigenständige Zielsetzen, Planen und Kontrollieren führte bei der Mehrheit der untersuchten Personen zu mehr Engagement, Zufriedenheit und Commitment, was sich in Form von gesteigerter Kreativität und Effizienz auch auf die Arbeitsleistung auswirkte.


Eine wichtige Differenzierung ergab sich dabei durch das Ausmass der kognitiven Beanspruchung, die durch die jeweiligen Anforderungen des End-to-End-verantwortlichen Arbeitens entstand. Wurde dieses als zu hoch empfunden, konnte es auch bei "vollständigen Tätigkeiten" zu eher negativen als positiven Beanspruchungsfolgen kommen, da dann erneut negative Treiber wie Zeitdruck und Stress auftreten können (zwar aus anderen Gründen, aber mit den selben Folgen).


Übertragen auf die Gestaltung beruflicher Stellen bedeutet dass, dass sich diese idealerweise in der Mitte eines Spannungsfeldes zwischen möglichst umfassender Verantwortung und noch bewältigbarer kognitiver Belastung befinden sollten (wobei diese "Mitte" in den meisten Fällen eher ein beweglicher als ein fixer Punkt sein dürfte). "Agile Praktiken" wie das Pull-Prinzip, Inspect & Adapt und das Automatisieren repetitiver Tätigkeiten könnten bei dieser Gestaltung wesentliche Erfolgsfaktoren sein.

Montag, 18. März 2024

Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte (XLI)

Grafik: Design Thinking! Comics

Den Vergleich von Produktentwicklungs-Vorhaben mit einer Acherbahnfaher kenne ich schon länger, aber noch nicht in dieser schönen Visualisierung.

Donnerstag, 14. März 2024

Confidence Meter

Grafik: Itimar Gilad - CC BY-SA 4.0

Würde man die Entwicklungsteams dieser Welt diejenigen Fragen nennen lassen, die am schwersten zu beantworten sind, würde eine mit ziemlicher Sicherheit weit oben landen: "Wie sicher seid Ihr, dass Euer Produkt am Markt erfolgreich sein wird?" Vor allem wenn etwas neu entwickelt wird (also in der IT eigentlich immer) ist eine wirklich sichere Antwort aufgrund fehlender Erfahrungswerte kaum möglich, gleichzeitig ist die Antwort "Kann man nicht sagen" natürlich auch unbefriedigend, schliesslich müssen Investitions- oder Abbruch-Entscheidungen ja irgendwann getroffen werden. Ein Dilemma.


Ein Weg um aus diesem Dilemma zu entkommen und zu realistischen Zuversichts-Werten zu kommen ist das Confidence Meter von Itimar Gilad. Mit seiner Hilfe lässt es sich die Bewertung aus verschiedenen Einfluss-Faktoren ableiten, und das nicht etwa nur auf Basis von Bauchgefühl, sondern auf der Grundlage überprüfbarer und in ihrer Gewichtung abgestufter Erkenntnisse, bzw. Ergebnisse. Dadurch ist dieser daraus summierte Wert nicht nur differenzierter, er ist auch weniger anfällig für unrealistisch optimistische Selbsttäuschungen und Manipulationen. Die (vereinfachten) Faktoren sind:


Individuelle Überzeugungen (Zuversichtswert 0,1)

Damit fängt alles an. Irgendjemand (Person oder Gruppe) hat die initiale Idee und glaubt daran, dass aus ihr etwas Grosses werden kann. Das ist wichtig und darf nicht geringgeschätzt werden, eine auch nur irgendwie geartete Erfolgswahrscheinlichkeit lässt sich aber kaum daraus ableiten.


Ein Pitch Deck (Zuversichtswert 0,1)

Sich selbst überzeugt zu haben ist ein erster Schritt, als nächstes gilt es andere zu überzeugen. Überlicherweise geschieht das mit einer Präsentation der (angenommenen) Potentiale und Vorteile. Die zu erstellen verhilft zu strukturierteren Annahmen, zu mehr aber noch nicht.


Aktuelle Trends, Moden und Buzzwords (Zuversichtswert 0,1)

Man kann hier einen beliebigen Hype einsetzen: Digital, Mobil, KI, was auch immer. Darauf aufzuspringen erscheint naheliegend und verlockend, eine auch nur irgendwie geartete Erfolgswahrscheinlichkeit lässt sich aber noch immer kaum daraus ableiten.


Unterstützende Meinungen (Zuversichtswert 0,5)

Ab hier wird es schon ein ganz kleines bisschen objektiver. Wenn auch andere Personen der Meinung sind, dass die Idee Potential haben könnte, ist das eine erste Bestätigung. Und wenn diese Personen auch noch über Budgets oder sonstige Ressourcen verfügen, um so besser.


Schätzungen und Planungen (Zuversichtswert 0,5)

Nehmen wir an, dass Budget da ist, jetzt kann überlegt werden, wie und wann es investiert wird. Das kann sehr dabei helfen, die Umsetzbarkeit zu beurteilen (ein durchaus wichtiger Punkt), ob das Produkt am Markt erfolgreich sein wird, ist aber noch immer sehr ungewiss.


Anekdotische Evidenz (Zuversichtswert 1)

An dieser Stelle gibt es zum ersten Mal eine kleine empirische Validierung. Irgendwo ist ein (angeblich) vergleichbares Vorhaben erfolgreich gewesen. Darin steckt im Zweifel noch viel Hören-Sagen, aber zumindest ist es zum ersten Mal etwas, das über Vermutungen und Hoffnungen hinausgeht.


Marktforschung (Zuversichtswert 3)

Mit Marktforschung wird Hören-Sagen durch eine erste, noch abstrakte, Bedarfsermittlung ersetzt. Ob die potentiellen Kunden und Nutzer aus diesem möglichen Bedarf eine konkrete Kaufentscheidung ableiten werden ist unklar, zumindest hat man sie jetzt aber erstmals überhaupt befragt.


Kunden-, bzw. Anwender-Wünsche (Zuversichtswert 3)

Ab hier wird es konkreter. Konfrontiert mit den ersten Entwürfen des zukünftigen Produkts können potentielle Kunden und Nutzer Wünsche, Erwartungen und Nutzungs-Absichten äussern. Noch keine Erfolgsgarantie, aber ein starker Indikator.


Ergebnisse von Kunden-, bzw. Anwender-Tests (Zuversichtswert 5)

Aus dem starken wird an dieser Stelle ein sehr starker Indikator. Test- und Focus-Gruppen bekommen Prototypen oder MVPs zur Verfügung gestellt und können Rückmeldung zur Benutzungs-Erfahrung und zum wahrgenommenen Mehrwert geben, ggf sogar schon zur Kauf-Absicht.


Echte Verkaufs- und Nutzungsdaten (Zuversichtswert 10)

In diesem letzten Stadium hat der Verkauf bereits begonnen und die ersten Zahlen zu Absatz und Nutzung wurden bereits ermittelt. Die Indikatoren werden jetzt nach und nach durch Beweise abgelöst, die Erfolgswahrscheinlichkeit ist klar abzusehen oder sogar bereits ermittelt.


Wie oben gesagt, diese Übersicht ist etwas vereinfacht, hinter den einzelnen Faktoren stecken nochmal Bandbreiten und Gewichtungen. Die Details dazu (inclusive einer Tabelle mit Berechnungsformeln) hat Itimar Gilad freundlicherweise auf seiner Website zur Verfügung gestellt. Wichtig ist aber, dass sich am Ende aus den Ausgangswerten der einzelnen Faktoren eine Gesamtsumme bildet, die einen realistischen, kaum verfälschbaren Zuversichtswert auf einer Skala zwischen 1 und 10 abbildet.


Was bei näherer Betrachtung dieses Modells auffällt ist, dass sich hohe Zuversichtswerte erst relativ spät, bzw. kurz vor dem Markteintritt ergeben können. Das ist für alle, die möglichst früh möglichst viel Sicherheit haben wollen, natürlich ärgerlich. Auf der anderen Seite ist es aber auch die harte Wahrheit - frühe Sicherheit gibt es bei neuen Produkten nicht. Wer nicht bereit ist das zu akzeptieren, dem werden auch Tools wie dieses hier nicht helfen.

Montag, 11. März 2024

Kollabierende methodische Modelle

Wenige Innovationen der letzten Jahrzehnte dürften so mit Hoffnungen und Erwartungen überladen sein wie die generative künstliche Intelligenz (in Form von Programmen wie Chat GTP, Gemini, o.Ä.). Um so ironischer dürfte es sein, dass wir durch sie etwas lernen können, was so niemand erwartet haben dürfte: wir können anhand der Evolution dieser Technologie erkennen, warum methodische Vorgehensweisen dem starken Risiko ausgesetzt sind, mit der Zeit unbrauchbar zu werden. Aber der Reihe nach.


Im Frühling 2023 veröffentlichten britische und kanadische Forscher die Studie The Curse of Recursion: Training on Generated Data Makes Models Forget. In ihr belegten sie folgendes Phänomen: wenn eine künstliche Intelligenz (KI) nur zu Beginn auf Basis bestehender Datensätze trainiert wird, dann aber ihre auf dieser Basis generierten Ergebnisse wiederum zu dem Trainingsmaterial hinzugefügt werden, dann wird die Qualität der Ergebnisse mit zunehmender Zeit immer schlechter.


Der Grund dafür ist Folgender: die Generierung erfolgt (stark vereinfacht) durch die Ermittlung der Durchschnittswerte aus bestimmten thematisch zusammengehörigen Teilen des Trainingsmaterials. Dadurch gehen Nuancen und Kontext verloren, Trends und verbreitete Missverständnisse entwickeln dagegen ein überproportionales Gewicht. Fliessen die so erzeugten Ergebnisse wieder in das Traininingsmaterial ein, entsteht eine immer stärker werdende Verfälschungs-Dynamik.


Das Ergebnis dieser Dynamik ist der irgendwann stattfindende Modell-Kollaps (Modell steht hier stellvertretend für die KI-Programme): die generative KI hat mit der Zeit so viel fehlerhaftes Material erstellt, dass das Trainingsmaterial in einem derartigen Ausmass davon kontaminiert ist, dass die ursprünglichen, unkontaminierten Bestandteile in Relation dazu in den Hintergrund treten. Und auf Grundlage dieser fehlerhaften Basis entstehen ab jetzt im Wesentlichen falsche Ergebnisse.


Jetzt zur Übertragung auf methodische Vorgehensweisen. Auch diese beruhen zu Beginn (sofern sie seriös sind) auf empirisch erhobenen Erfahrungswerten und sind so in der Realität verankert. Auf dieser Basis entehen aber auch hier Ergebnisse (Konferenzbeiträge, Fachpublikationen, etc.), die populäre Irrtümer, Durchschnitte und Moden verstärkt abbilden. Und wenn das wieder in die Weiterentwicklung der Methodik einfliesst, droht der Kollaps dieser (mentalen) Modelle auch an dieser Stelle.


Die Folge dieser kollabierenden methodische Modelle sind deren zunehmende Entkoppelungen von der Realität, oft in Form von immer trivialer und esoterischer werdenden Frameworks und Methoden. Transaktionale Führung, Selbstorganisation, Purpose oder ähnlich generische Konzepte werden undifferenziert und kontextbefreit zu Universallösungen erhoben, Management-Moden wie das "Spotify Model" oder OKRs werden mit unrealistischen Erfolgsversprechen verbunden, etc, etc.


Ein Weg, der aus dieser Situation herausführen kann, lässt sich übrigens erneut aus den Trainings der generativen KIs extrahieren. Diese führen nämlich dann wieder zu besseren Ergebnissen, wenn die selbsterzeugten Inhalte bewusst nicht in das Ausgangsmaterial weiterer Trainings aufgenommen werden (bzw. dort wo das bereits passiert ist wieder aus ihm entfernt werden), um so die sich selbst verstärkenden Verfälschungs-Kreisläufe gar nicht erst entstehen zu lassen.


Auf die Methodenwelt übertragen würde das bedeuten, Management-Moden, generische oder vereinfachte Ideen und stark kontextspezifische Fallstudien bewusst nicht in die Weiterentwicklung von Vorgehensmodellen einfliessen zu lassen und sich stattdessen auf empirische Validierung und wissenschaftliche Evidenz zu stützen. Inwiefern Organisationen wie das Project Management Institute oder Scaled Agile Inc. wohl dazu bereit wären, kann jeder für sich selbst zu bewerten versuchen.